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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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wäre nicht dabey mein Können und Vermö¬
gen bey mir selbst außer allen Credit ge¬
kommen, so wäre ich vielleicht mit jenem Zu¬
stande immer zufrieden geblieben.

Nun hatte ich aber seit jenem großen
Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte
mich über das was mich vorher bedrohete
aufschwingen, wie ein Vogel singend über
den schnellsten Strom ohne Mühe fliegt,
vor welchem das Hündchen ängstlich bellend
stehen bleibt.

Meine Freude war unbeschreiblich, und
ob ich gleich niemand etwas davon entdeck¬
te, so merkten doch die meinigen eine unge¬
wöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen
zu können, was die Ursache meines Vergnü¬
gens wäre. Hätte ich doch immer geschwie¬
gen, und die reine Stimmung in meiner
Seele zu erhalten gesucht! Hätte ich mich
doch nicht durch Umstände verleiten lassen,

W. Meisters Lehrj. 3. U

wäre nicht dabey mein Können und Vermö¬
gen bey mir ſelbſt außer allen Credit ge¬
kommen, ſo wäre ich vielleicht mit jenem Zu¬
ſtande immer zufrieden geblieben.

Nun hatte ich aber ſeit jenem großen
Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte
mich über das was mich vorher bedrohete
aufſchwingen, wie ein Vogel ſingend über
den ſchnellſten Strom ohne Mühe fliegt,
vor welchem das Hündchen ängſtlich bellend
ſtehen bleibt.

Meine Freude war unbeſchreiblich, und
ob ich gleich niemand etwas davon entdeck¬
te, ſo merkten doch die meinigen eine unge¬
wöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen
zu können, was die Urſache meines Vergnü¬
gens wäre. Hätte ich doch immer geſchwie¬
gen, und die reine Stimmung in meiner
Seele zu erhalten geſucht! Hätte ich mich
doch nicht durch Umſtände verleiten laſſen,

W. Meiſters Lehrj. 3. U
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[305/0311] wäre nicht dabey mein Können und Vermö¬ gen bey mir ſelbſt außer allen Credit ge¬ kommen, ſo wäre ich vielleicht mit jenem Zu¬ ſtande immer zufrieden geblieben. Nun hatte ich aber ſeit jenem großen Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte mich über das was mich vorher bedrohete aufſchwingen, wie ein Vogel ſingend über den ſchnellſten Strom ohne Mühe fliegt, vor welchem das Hündchen ängſtlich bellend ſtehen bleibt. Meine Freude war unbeſchreiblich, und ob ich gleich niemand etwas davon entdeck¬ te, ſo merkten doch die meinigen eine unge¬ wöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen zu können, was die Urſache meines Vergnü¬ gens wäre. Hätte ich doch immer geſchwie¬ gen, und die reine Stimmung in meiner Seele zu erhalten geſucht! Hätte ich mich doch nicht durch Umſtände verleiten laſſen, W. Meiſters Lehrj. 3. U

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/311>, abgerufen am 19.05.2024.