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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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vid losbrechen können, als er Bathseba er¬
blickte, und war er nicht auch ein Freund
Gottes, und war ich nicht im Innersten
überzeugt, daß Gott mein Freund sey?

Sollte es also wohl eine unvermeidliche
Schwäche der Menschheit seyn? müssen wir
uns nun gefallen lassen, daß wir irgend ein¬
mal die Herrschaft unsrer Neigung empfin¬
den, und bleibt uns bey dem besten Willen
nichts anders übrig als den Fall, den wir
gethan, zu verabscheuen, und bey einer ähn¬
lichen Gelegenheit wieder zu fallen?

Aus der Sittenlehre konnte ich keinen
Trost schöpfen. Weder ihre Strenge, wo¬
durch sie unsre Neigung bemeistern will, noch
ihre Gefälligkeit, mit der sie unsre Neigun¬
gen zu Tugenden machen möchte, konnte mir
genügen. Die Grundbegriffe die mir der Um¬
gang mit dem unsichtbaren Freunde einge¬
flößt hatte, hatten für mich schon einen viel
entschiedenern Werth.

vid losbrechen können, als er Bathſeba er¬
blickte, und war er nicht auch ein Freund
Gottes, und war ich nicht im Innerſten
überzeugt, daß Gott mein Freund ſey?

Sollte es alſo wohl eine unvermeidliche
Schwäche der Menſchheit ſeyn? müſſen wir
uns nun gefallen laſſen, daß wir irgend ein¬
mal die Herrſchaft unſrer Neigung empfin¬
den, und bleibt uns bey dem beſten Willen
nichts anders übrig als den Fall, den wir
gethan, zu verabſcheuen, und bey einer ähn¬
lichen Gelegenheit wieder zu fallen?

Aus der Sittenlehre konnte ich keinen
Troſt ſchöpfen. Weder ihre Strenge, wo¬
durch ſie unſre Neigung bemeiſtern will, noch
ihre Gefälligkeit, mit der ſie unſre Neigun¬
gen zu Tugenden machen möchte, konnte mir
genügen. Die Grundbegriffe die mir der Um¬
gang mit dem unſichtbaren Freunde einge¬
flößt hatte, hatten für mich ſchon einen viel
entſchiedenern Werth.

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[299/0305] vid losbrechen können, als er Bathſeba er¬ blickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes, und war ich nicht im Innerſten überzeugt, daß Gott mein Freund ſey? Sollte es alſo wohl eine unvermeidliche Schwäche der Menſchheit ſeyn? müſſen wir uns nun gefallen laſſen, daß wir irgend ein¬ mal die Herrſchaft unſrer Neigung empfin¬ den, und bleibt uns bey dem beſten Willen nichts anders übrig als den Fall, den wir gethan, zu verabſcheuen, und bey einer ähn¬ lichen Gelegenheit wieder zu fallen? Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Troſt ſchöpfen. Weder ihre Strenge, wo¬ durch ſie unſre Neigung bemeiſtern will, noch ihre Gefälligkeit, mit der ſie unſre Neigun¬ gen zu Tugenden machen möchte, konnte mir genügen. Die Grundbegriffe die mir der Um¬ gang mit dem unſichtbaren Freunde einge¬ flößt hatte, hatten für mich ſchon einen viel entſchiedenern Werth.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/305>, abgerufen am 26.05.2024.