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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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che Geistesbeschaffenheit, wofür ich die mei¬
nige anerkennen mußte, sich nicht zu einer
Vereinigung mit dem höchsten Wesen, die
ich nach dem Tode hofte, schicken können; so
wenig fürchtete ich, in eine solche Trennung
zu gerathen. Bey allem Bösen, das ich in
mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte
was ich fühlte, ja ich wünschte es noch ernst¬
licher zu hassen, und mein ganzer Wunsch
war, von dieser Krankheit, und dieser Anla¬
ge zur Krankheit erlöst zu werden, und ich
war gewiß, daß mir der große Arzt seine
Hülfe nicht versagen würde.

Die einzige Frage war: was heilt diesen
Schaden? Tugendübungen? An die konnte
ich nicht einmal denken. Denn zehn Jahre
hatte ich schon mehr als nur bloße Tugend
geübt, und die nun erkannten Greuel hat¬
ten dabey tief in meiner Seele verborgen
gelegen; hätten sie nicht auch wie bey Da¬

che Geiſtesbeſchaffenheit, wofür ich die mei¬
nige anerkennen mußte, ſich nicht zu einer
Vereinigung mit dem höchſten Weſen, die
ich nach dem Tode hofte, ſchicken können; ſo
wenig fürchtete ich, in eine ſolche Trennung
zu gerathen. Bey allem Böſen, das ich in
mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte
was ich fühlte, ja ich wünſchte es noch ernſt¬
licher zu haſſen, und mein ganzer Wunſch
war, von dieſer Krankheit, und dieſer Anla¬
ge zur Krankheit erlöst zu werden, und ich
war gewiß, daß mir der große Arzt ſeine
Hülfe nicht verſagen würde.

Die einzige Frage war: was heilt dieſen
Schaden? Tugendübungen? An die konnte
ich nicht einmal denken. Denn zehn Jahre
hatte ich ſchon mehr als nur bloße Tugend
geübt, und die nun erkannten Greuel hat¬
ten dabey tief in meiner Seele verborgen
gelegen; hätten ſie nicht auch wie bey Da¬

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[298/0304] che Geiſtesbeſchaffenheit, wofür ich die mei¬ nige anerkennen mußte, ſich nicht zu einer Vereinigung mit dem höchſten Weſen, die ich nach dem Tode hofte, ſchicken können; ſo wenig fürchtete ich, in eine ſolche Trennung zu gerathen. Bey allem Böſen, das ich in mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte was ich fühlte, ja ich wünſchte es noch ernſt¬ licher zu haſſen, und mein ganzer Wunſch war, von dieſer Krankheit, und dieſer Anla¬ ge zur Krankheit erlöst zu werden, und ich war gewiß, daß mir der große Arzt ſeine Hülfe nicht verſagen würde. Die einzige Frage war: was heilt dieſen Schaden? Tugendübungen? An die konnte ich nicht einmal denken. Denn zehn Jahre hatte ich ſchon mehr als nur bloße Tugend geübt, und die nun erkannten Greuel hat¬ ten dabey tief in meiner Seele verborgen gelegen; hätten ſie nicht auch wie bey Da¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/304>, abgerufen am 26.05.2024.