Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Welche Wirkung hatte das auf mein
Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die
mir ganz neu waren. Ich sah mit unbe¬
schreiblicher Wehmuth einen Agathon, der
in den Hainen von Delphos erzogen, das
Lehrgeld noch schuldig war, und es nun mit
schweren rückständigen Zinsen abzahlte, und
dieser Agathon war mein genau verbunde¬
ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬
haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und
wir befanden uns beyde in dem sonderbar¬
sten Zustande.

Nachdem ich mich lange mit seiner Ge¬
müthsverfassung beschäftigt hatte, wendete
sich meine Betrachtung auf mich selbst. Der
Gedanke, du bist nicht besser als er, stieg
wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete
sich nach und nach aus, und verfinsterte mei¬
ne ganze Seele.

Nun dachte ich nicht mehr bloß, du bist

Welche Wirkung hatte das auf mein
Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die
mir ganz neu waren. Ich ſah mit unbe¬
ſchreiblicher Wehmuth einen Agathon, der
in den Hainen von Delphos erzogen, das
Lehrgeld noch ſchuldig war, und es nun mit
ſchweren rückſtändigen Zinſen abzahlte, und
dieſer Agathon war mein genau verbunde¬
ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬
haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und
wir befanden uns beyde in dem ſonderbar¬
ſten Zuſtande.

Nachdem ich mich lange mit ſeiner Ge¬
müthsverfaſſung beſchäftigt hatte, wendete
ſich meine Betrachtung auf mich ſelbſt. Der
Gedanke, du biſt nicht beſſer als er, ſtieg
wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete
ſich nach und nach aus, und verfinſterte mei¬
ne ganze Seele.

Nun dachte ich nicht mehr bloß, du biſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0302" n="296"/>
            <p>Welche Wirkung hatte das auf mein<lb/>
Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die<lb/>
mir ganz neu waren. Ich &#x017F;ah mit unbe¬<lb/>
&#x017F;chreiblicher Wehmuth einen Agathon, der<lb/>
in den Hainen von Delphos erzogen, das<lb/>
Lehrgeld noch &#x017F;chuldig war, und es nun mit<lb/>
&#x017F;chweren rück&#x017F;tändigen Zin&#x017F;en abzahlte, und<lb/>
die&#x017F;er Agathon war mein genau verbunde¬<lb/>
ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬<lb/>
haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und<lb/>
wir befanden uns beyde in dem &#x017F;onderbar¬<lb/>
&#x017F;ten Zu&#x017F;tande.</p><lb/>
            <p>Nachdem ich mich lange mit &#x017F;einer Ge¬<lb/>
müthsverfa&#x017F;&#x017F;ung be&#x017F;chäftigt hatte, wendete<lb/>
&#x017F;ich meine Betrachtung auf mich &#x017F;elb&#x017F;t. Der<lb/>
Gedanke, du bi&#x017F;t nicht be&#x017F;&#x017F;er als er, &#x017F;tieg<lb/>
wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete<lb/>
&#x017F;ich nach und nach aus, und verfin&#x017F;terte mei¬<lb/>
ne ganze Seele.</p><lb/>
            <p>Nun dachte ich nicht mehr bloß, du bi&#x017F;t<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[296/0302] Welche Wirkung hatte das auf mein Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die mir ganz neu waren. Ich ſah mit unbe¬ ſchreiblicher Wehmuth einen Agathon, der in den Hainen von Delphos erzogen, das Lehrgeld noch ſchuldig war, und es nun mit ſchweren rückſtändigen Zinſen abzahlte, und dieſer Agathon war mein genau verbunde¬ ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬ haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und wir befanden uns beyde in dem ſonderbar¬ ſten Zuſtande. Nachdem ich mich lange mit ſeiner Ge¬ müthsverfaſſung beſchäftigt hatte, wendete ſich meine Betrachtung auf mich ſelbſt. Der Gedanke, du biſt nicht beſſer als er, ſtieg wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete ſich nach und nach aus, und verfinſterte mei¬ ne ganze Seele. Nun dachte ich nicht mehr bloß, du biſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/302
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/302>, abgerufen am 19.05.2024.