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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Seele ohne mein eigentliches Bewußtseyn
entschieden. Wenn auch etwas in mir war,
das sich nach den sinnlichen Freuden hin¬
sehnte, so konnte ich sie doch nicht mehr ge¬
nießen. Wer den Wein noch so sehr liebt,
dem wird alle Lust zum Trinken vergehen,
wenn er sich bey vollen Fässern in einem
Keller befände, in welchem die verdorbene
Luft ihn zu ersticken drohete. Reine Luft ist
mehr als Wein, das fühlte ich nur zu leb¬
haft, und es hätte gleich von Anfang an
wenig Überlegung bey mir gekostet, das
Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich
die Furcht, Narcissens Gunst zu verlieren,
nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich
nach tausendfältigem Streit, nach immer
wiederholter Betrachtung, auch scharfe Blicke
auf das Band warf, das mich an ihn fest
hielt, entdeckte ich, daß es nur schwach war,
daß es sich zerreissen lasse. Ich erkannte

Seele ohne mein eigentliches Bewußtſeyn
entſchieden. Wenn auch etwas in mir war,
das ſich nach den ſinnlichen Freuden hin¬
ſehnte, ſo konnte ich ſie doch nicht mehr ge¬
nießen. Wer den Wein noch ſo ſehr liebt,
dem wird alle Luſt zum Trinken vergehen,
wenn er ſich bey vollen Fäſſern in einem
Keller befände, in welchem die verdorbene
Luft ihn zu erſticken drohete. Reine Luft iſt
mehr als Wein, das fühlte ich nur zu leb¬
haft, und es hätte gleich von Anfang an
wenig Überlegung bey mir gekoſtet, das
Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich
die Furcht, Narciſſens Gunſt zu verlieren,
nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich
nach tauſendfältigem Streit, nach immer
wiederholter Betrachtung, auch ſcharfe Blicke
auf das Band warf, das mich an ihn feſt
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[262/0268] Seele ohne mein eigentliches Bewußtſeyn entſchieden. Wenn auch etwas in mir war, das ſich nach den ſinnlichen Freuden hin¬ ſehnte, ſo konnte ich ſie doch nicht mehr ge¬ nießen. Wer den Wein noch ſo ſehr liebt, dem wird alle Luſt zum Trinken vergehen, wenn er ſich bey vollen Fäſſern in einem Keller befände, in welchem die verdorbene Luft ihn zu erſticken drohete. Reine Luft iſt mehr als Wein, das fühlte ich nur zu leb¬ haft, und es hätte gleich von Anfang an wenig Überlegung bey mir gekoſtet, das Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich die Furcht, Narciſſens Gunſt zu verlieren, nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich nach tauſendfältigem Streit, nach immer wiederholter Betrachtung, auch ſcharfe Blicke auf das Band warf, das mich an ihn feſt hielt, entdeckte ich, daß es nur ſchwach war, daß es ſich zerreiſſen laſſe. Ich erkannte

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/268>, abgerufen am 21.05.2024.