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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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menaden und allen gesellschaftlichen Vergnü¬
gungen, die sich nur denken lassen:

Ich hatt' ihn einzig mir erkohren;
Ich schien mir nur für ihn gebohren,
Begehrte nichts als seine Gunst.

So war ich oft in der Gesellschaft ein¬
sam, und die völlige Einsamkeit war mir
meistens lieber. Allein mein geschäftiger Geist
konnte weder schlafen noch träumen; ich
fühlte und dachte und erlangte nach und
nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindun¬
gen und Gedanken mit Gott zu reden. Da
entwickelten sich Empfindungen anderer Art
in meiner Seele, die jenen nicht widerspra¬
chen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem
ganzen Schöpfungsplane gemäß und stieß
nirgend gegen meine Pflichten an. Sie wi¬
dersprachen sich nicht und waren doch unend¬
lich verschieden. Narciß war das einzige

menaden und allen geſellſchaftlichen Vergnü¬
gungen, die ſich nur denken laſſen:

Ich hatt’ ihn einzig mir erkohren;
Ich ſchien mir nur für ihn gebohren,
Begehrte nichts als ſeine Gunſt.

So war ich oft in der Geſellſchaft ein¬
ſam, und die völlige Einſamkeit war mir
meiſtens lieber. Allein mein geſchäftiger Geiſt
konnte weder ſchlafen noch träumen; ich
fühlte und dachte und erlangte nach und
nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindun¬
gen und Gedanken mit Gott zu reden. Da
entwickelten ſich Empfindungen anderer Art
in meiner Seele, die jenen nicht widerſpra¬
chen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem
ganzen Schöpfungsplane gemäß und ſtieß
nirgend gegen meine Pflichten an. Sie wi¬
derſprachen ſich nicht und waren doch unend¬
lich verſchieden. Narciß war das einzige

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[249/0255] menaden und allen geſellſchaftlichen Vergnü¬ gungen, die ſich nur denken laſſen: Ich hatt’ ihn einzig mir erkohren; Ich ſchien mir nur für ihn gebohren, Begehrte nichts als ſeine Gunſt. So war ich oft in der Geſellſchaft ein¬ ſam, und die völlige Einſamkeit war mir meiſtens lieber. Allein mein geſchäftiger Geiſt konnte weder ſchlafen noch träumen; ich fühlte und dachte und erlangte nach und nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindun¬ gen und Gedanken mit Gott zu reden. Da entwickelten ſich Empfindungen anderer Art in meiner Seele, die jenen nicht widerſpra¬ chen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem ganzen Schöpfungsplane gemäß und ſtieß nirgend gegen meine Pflichten an. Sie wi¬ derſprachen ſich nicht und waren doch unend¬ lich verſchieden. Narciß war das einzige

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/255>, abgerufen am 21.05.2024.