kann ich sie mehr bedauern, als mit ihr em¬ pfinden. Nun aber erlauben Sie mir eine Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen Zeit oft Gelegenheit gegeben haben: mit Be¬ wunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung und besonders dramatische Dichtung beur¬ theilen; die tiefsten Abgründe der Erfindung sind Ihnen nicht verborgen, und die feinsten Züge der Ausführung sind Ihnen bemerkbar. Ohne die Gegenstände jemals in der Natur erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahr¬ heit im Bilde; es scheint eine Vorempfin¬ dung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmonische Berührung der Dichtkunst erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig, fuhr sie fort, von aussen kommt nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so wenig kennt, so von Grund
kann ich ſie mehr bedauern, als mit ihr em¬ pfinden. Nun aber erlauben Sie mir eine Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen Zeit oft Gelegenheit gegeben haben: mit Be¬ wunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung und beſonders dramatiſche Dichtung beur¬ theilen; die tiefſten Abgründe der Erfindung ſind Ihnen nicht verborgen, und die feinſten Züge der Ausführung ſind Ihnen bemerkbar. Ohne die Gegenſtände jemals in der Natur erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahr¬ heit im Bilde; es ſcheint eine Vorempfin¬ dung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmoniſche Berührung der Dichtkunſt erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig, fuhr ſie fort, von auſſen kommt nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht jemanden geſehen, der die Menſchen, mit denen er lebt, ſo wenig kennt, ſo von Grund
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kann ich ſie mehr bedauern, als mit ihr em¬
pfinden. Nun aber erlauben Sie mir eine
Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen
Zeit oft Gelegenheit gegeben haben: mit Be¬
wunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen
und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung
und beſonders dramatiſche Dichtung beur¬
theilen; die tiefſten Abgründe der Erfindung
ſind Ihnen nicht verborgen, und die feinſten
Züge der Ausführung ſind Ihnen bemerkbar.
Ohne die Gegenſtände jemals in der Natur
erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahr¬
heit im Bilde; es ſcheint eine Vorempfin¬
dung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen,
welche durch die harmoniſche Berührung der
Dichtkunſt erregt und entwickelt wird. Denn
wahrhaftig, fuhr ſie fort, von auſſen kommt
nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht
jemanden geſehen, der die Menſchen, mit
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/319>, abgerufen am 24.11.2024.
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