Inzwischen hatte die Baronesse mehrere Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das Betragen des Grafen seit jenem Abentheuer war ihr ein völliges Räthsel. Er war ganz aus seiner Manier herausgegangen, von sei¬ nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen. Seine Forderungen an die Gesellschaft und an die Bedienten hatten sehr nachgelassen. Von Pedanterie und gebieterischem Wesen merkte man wenig, vielmehr war er still und in sich gekehrt, jedoch schien er heiter, und wirklich ein anderer Mensch zu seyn. Bey Vorlesungen, zu denen er zuweilen Anlaß gab, wählte er ernsthafte, oft religiöse Bü¬ cher, und die Baronesse lebte in beständiger
Furcht,
Zwölftes Capitel.
Inzwiſchen hatte die Baroneſſe mehrere Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das Betragen des Grafen ſeit jenem Abentheuer war ihr ein völliges Räthſel. Er war ganz aus ſeiner Manier herausgegangen, von ſei¬ nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen. Seine Forderungen an die Geſellſchaft und an die Bedienten hatten ſehr nachgelaſſen. Von Pedanterie und gebieteriſchem Weſen merkte man wenig, vielmehr war er ſtill und in ſich gekehrt, jedoch ſchien er heiter, und wirklich ein anderer Menſch zu ſeyn. Bey Vorleſungen, zu denen er zuweilen Anlaß gab, wählte er ernſthafte, oft religiöſe Bü¬ cher, und die Baroneſſe lebte in beſtändiger
Furcht,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0152"n="144"/></div><divn="3"><head><hirendition="#g">Zwölftes Capitel.</hi><lb/></head><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p><hirendition="#in">I</hi>nzwiſchen hatte die Baroneſſe mehrere<lb/>
Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten<lb/>
Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das<lb/>
Betragen des Grafen ſeit jenem Abentheuer<lb/>
war ihr ein völliges Räthſel. Er war ganz<lb/>
aus ſeiner Manier herausgegangen, von ſei¬<lb/>
nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen.<lb/>
Seine Forderungen an die Geſellſchaft und<lb/>
an die Bedienten hatten ſehr nachgelaſſen.<lb/>
Von Pedanterie und gebieteriſchem Weſen<lb/>
merkte man wenig, vielmehr war er ſtill und<lb/>
in ſich gekehrt, jedoch ſchien er heiter, und<lb/>
wirklich ein anderer Menſch zu ſeyn. Bey<lb/>
Vorleſungen, zu denen er zuweilen Anlaß<lb/>
gab, wählte er ernſthafte, oft religiöſe Bü¬<lb/>
cher, und die Baroneſſe lebte in beſtändiger<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Furcht,<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[144/0152]
Zwölftes Capitel.
Inzwiſchen hatte die Baroneſſe mehrere
Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten
Neugierde gepeinigt, zugebracht, Denn das
Betragen des Grafen ſeit jenem Abentheuer
war ihr ein völliges Räthſel. Er war ganz
aus ſeiner Manier herausgegangen, von ſei¬
nen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen.
Seine Forderungen an die Geſellſchaft und
an die Bedienten hatten ſehr nachgelaſſen.
Von Pedanterie und gebieteriſchem Weſen
merkte man wenig, vielmehr war er ſtill und
in ſich gekehrt, jedoch ſchien er heiter, und
wirklich ein anderer Menſch zu ſeyn. Bey
Vorleſungen, zu denen er zuweilen Anlaß
gab, wählte er ernſthafte, oft religiöſe Bü¬
cher, und die Baroneſſe lebte in beſtändiger
Furcht,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre02_1795/152>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.