hatte ich die alte Hausmutter geschildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüsseln an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und haus¬ hältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich beschrieb ich den Zustand dessen, der sich unter ihrer Ruthe bücken und sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des An¬ gesichtes verdienen sollte!
Wie anders trat jene dagegen auf! Wel¬ che Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freyheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab ihr Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwän¬ gen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten, wie ein tausendfaches Echo, die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Contrast! Und auf welche Seite sich mein
hatte ich die alte Hausmutter geſchildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüſſeln an der Seite, Brillen auf der Naſe, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkiſch und haus¬ hältiſch, kleinlich und beſchwerlich! Wie kümmerlich beſchrieb ich den Zuſtand deſſen, der ſich unter ihrer Ruthe bücken und ſein knechtiſches Tagewerk im Schweiße des An¬ geſichtes verdienen ſollte!
Wie anders trat jene dagegen auf! Wel¬ che Erſcheinung ward ſie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Weſen und Betragen als eine Tochter der Freyheit anzuſehen. Das Gefühl ihrer ſelbſt gab ihr Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, ſie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwän¬ gen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten, wie ein tauſendfaches Echo, die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Contraſt! Und auf welche Seite ſich mein
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hatte ich die alte Hausmutter geſchildert mit
dem Rocken im Gürtel, mit Schlüſſeln an
der Seite, Brillen auf der Naſe, immer
fleißig, immer in Unruhe, zänkiſch und haus¬
hältiſch, kleinlich und beſchwerlich! Wie
kümmerlich beſchrieb ich den Zuſtand deſſen,
der ſich unter ihrer Ruthe bücken und ſein
knechtiſches Tagewerk im Schweiße des An¬
geſichtes verdienen ſollte!
Wie anders trat jene dagegen auf! Wel¬
che Erſcheinung ward ſie dem bekümmerten
Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Weſen
und Betragen als eine Tochter der Freyheit
anzuſehen. Das Gefühl ihrer ſelbſt gab ihr
Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr,
ſie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwän¬
gen, und die reichlichen Falten des Stoffes
wiederholten, wie ein tauſendfaches Echo, die
reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch
ein Contraſt! Und auf welche Seite ſich mein
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/76>, abgerufen am 24.11.2024.
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