Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir in der Menge und Abwechslung unsre Be¬ friedigung finden. Leider aber ward mein Urtheil noch auf eine andere Weise bestochen. Die Stücke gefielen mir besonders, in denen ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige, die ich nicht in dieser angenehmen Täuschung durchlas; und meine lebhafte Vorstellungs¬ kraft, da ich mich in alle Rollen denken konnte, verführte mich zu glauben, daß ich auch alle darstellen würde: gewöhnlich wähl¬ te ich daher bey der Austheilung diejenigen, welche sich gar nicht für mich schickten, und wenn es nur einigermaßen angehn wollte, wohl gar ein paar Rollen.
Kinder wissen beym Spiele aus allem al¬ les zu machen; ein Stab wird zur Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bün¬ delchen zur Puppe, und jeder Winkel zur Hütte. In diesem Sinne entwickelte sich un¬
Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir in der Menge und Abwechslung unſre Be¬ friedigung finden. Leider aber ward mein Urtheil noch auf eine andere Weiſe beſtochen. Die Stücke gefielen mir beſonders, in denen ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige, die ich nicht in dieſer angenehmen Täuſchung durchlas; und meine lebhafte Vorſtellungs¬ kraft, da ich mich in alle Rollen denken konnte, verführte mich zu glauben, daß ich auch alle darſtellen würde: gewöhnlich wähl¬ te ich daher bey der Austheilung diejenigen, welche ſich gar nicht für mich ſchickten, und wenn es nur einigermaßen angehn wollte, wohl gar ein paar Rollen.
Kinder wiſſen beym Spiele aus allem al¬ les zu machen; ein Stab wird zur Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bün¬ delchen zur Puppe, und jeder Winkel zur Hütte. In dieſem Sinne entwickelte ſich un¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0071"n="63"/>
Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir<lb/>
in der Menge und Abwechslung unſre Be¬<lb/>
friedigung finden. Leider aber ward mein<lb/>
Urtheil noch auf eine andere Weiſe beſtochen.<lb/>
Die Stücke gefielen mir beſonders, in denen<lb/>
ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige,<lb/>
die ich nicht in dieſer angenehmen Täuſchung<lb/>
durchlas; und meine lebhafte Vorſtellungs¬<lb/>
kraft, da ich mich in alle Rollen denken<lb/>
konnte, verführte mich zu glauben, daß ich<lb/>
auch alle darſtellen würde: gewöhnlich wähl¬<lb/>
te ich daher bey der Austheilung diejenigen,<lb/>
welche ſich gar nicht für mich ſchickten, und<lb/>
wenn es nur einigermaßen angehn wollte,<lb/>
wohl gar ein paar Rollen.</p><lb/><p>Kinder wiſſen beym Spiele aus allem al¬<lb/>
les zu machen; ein Stab wird zur Flinte,<lb/>
ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bün¬<lb/>
delchen zur Puppe, und jeder Winkel zur<lb/>
Hütte. In dieſem Sinne entwickelte ſich un¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[63/0071]
Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir
in der Menge und Abwechslung unſre Be¬
friedigung finden. Leider aber ward mein
Urtheil noch auf eine andere Weiſe beſtochen.
Die Stücke gefielen mir beſonders, in denen
ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige,
die ich nicht in dieſer angenehmen Täuſchung
durchlas; und meine lebhafte Vorſtellungs¬
kraft, da ich mich in alle Rollen denken
konnte, verführte mich zu glauben, daß ich
auch alle darſtellen würde: gewöhnlich wähl¬
te ich daher bey der Austheilung diejenigen,
welche ſich gar nicht für mich ſchickten, und
wenn es nur einigermaßen angehn wollte,
wohl gar ein paar Rollen.
Kinder wiſſen beym Spiele aus allem al¬
les zu machen; ein Stab wird zur Flinte,
ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bün¬
delchen zur Puppe, und jeder Winkel zur
Hütte. In dieſem Sinne entwickelte ſich un¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/71>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.