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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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Das befreyte Jerusalem, davon mir Kop¬
pens Übersetzung in die Hände fiel, gab mei¬
nen herumschweifenden Gedanken endlich ei¬
ne bestimmte Richtung. Ganz konnte ich
zwar das Gedicht nicht lesen; es waren aber
Stellen, die ich auswendig wußte, deren
Bilder mich umschwebten. Besonders fesselte
mich Chlorinde mit ihrem ganzen Thun und
Lassen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige
Fülle ihres Daseyns, thaten mehr Wirkung
auf den Geist, der sich zu entwickeln anfing,
als die gemachten Reize Armidens, ob ich
gleich ihren Garten nicht verachtete.

Aber hundert und hundertmal, wenn ich
Abends auf dem Altan, der zwischen den
Giebeln des Hauses angebracht ist, spazierte,
über die Gegend hinsah, und von der hinab¬
gewichenen Sonne ein zitternder Schein am
Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervor¬
traten, aus allen Winkeln und Tiefen die

Das befreyte Jeruſalem, davon mir Kop¬
pens Überſetzung in die Hände fiel, gab mei¬
nen herumſchweifenden Gedanken endlich ei¬
ne beſtimmte Richtung. Ganz konnte ich
zwar das Gedicht nicht leſen; es waren aber
Stellen, die ich auswendig wußte, deren
Bilder mich umſchwebten. Beſonders feſſelte
mich Chlorinde mit ihrem ganzen Thun und
Laſſen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige
Fülle ihres Daſeyns, thaten mehr Wirkung
auf den Geiſt, der ſich zu entwickeln anfing,
als die gemachten Reize Armidens, ob ich
gleich ihren Garten nicht verachtete.

Aber hundert und hundertmal, wenn ich
Abends auf dem Altan, der zwiſchen den
Giebeln des Hauſes angebracht iſt, ſpazierte,
über die Gegend hinſah, und von der hinab¬
gewichenen Sonne ein zitternder Schein am
Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervor¬
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[53/0061] Das befreyte Jeruſalem, davon mir Kop¬ pens Überſetzung in die Hände fiel, gab mei¬ nen herumſchweifenden Gedanken endlich ei¬ ne beſtimmte Richtung. Ganz konnte ich zwar das Gedicht nicht leſen; es waren aber Stellen, die ich auswendig wußte, deren Bilder mich umſchwebten. Beſonders feſſelte mich Chlorinde mit ihrem ganzen Thun und Laſſen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daſeyns, thaten mehr Wirkung auf den Geiſt, der ſich zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob ich gleich ihren Garten nicht verachtete. Aber hundert und hundertmal, wenn ich Abends auf dem Altan, der zwiſchen den Giebeln des Hauſes angebracht iſt, ſpazierte, über die Gegend hinſah, und von der hinab¬ gewichenen Sonne ein zitternder Schein am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervor¬ traten, aus allen Winkeln und Tiefen die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/61>, abgerufen am 27.11.2024.