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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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halb kniend sich durch die Reihen durch¬
wand.

Unaufhaltsam, wie ein Uhrwerk, lief sie
ihren Weg, und die sonderbare Musik gab
dem immer wieder von vorne anfangenden
und losrauschenden Tanze bey jeder Wieder¬
holung einen neuen Stoß. Wilhelm war
von dem sonderbaren Schauspiele ganz hin¬
gerissen, er vergas seiner Sorgen, folgte je¬
der Bewegung der geliebten Creatur, und
war verwundert, wie in diesem Tanze sich
ihr Charakter vorzüglich entwickelte.

Streng, scharf, trocken, heftig, und in
sanften Stellungen mehr feyerlich als ange¬
nehm, zeigte sie sich. Er empfand, was er
schon für Mignon gefühlt, in diesem Augen¬
blicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses ver¬
lassene Wesen an Kindesstatt seinem Herzen
einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen,

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halb kniend ſich durch die Reihen durch¬
wand.

Unaufhaltſam, wie ein Uhrwerk, lief ſie
ihren Weg, und die ſonderbare Muſik gab
dem immer wieder von vorne anfangenden
und losrauſchenden Tanze bey jeder Wieder¬
holung einen neuen Stoß. Wilhelm war
von dem ſonderbaren Schauſpiele ganz hin¬
geriſſen, er vergas ſeiner Sorgen, folgte je¬
der Bewegung der geliebten Creatur, und
war verwundert, wie in dieſem Tanze ſich
ihr Charakter vorzüglich entwickelte.

Streng, ſcharf, trocken, heftig, und in
ſanften Stellungen mehr feyerlich als ange¬
nehm, zeigte ſie ſich. Er empfand, was er
ſchon für Mignon gefühlt, in dieſem Augen¬
blicke auf einmal. Er ſehnte ſich, dieſes ver¬
laſſene Weſen an Kindesſtatt ſeinem Herzen
einzuverleiben, es in ſeine Arme zu nehmen,

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[291/0299] halb kniend ſich durch die Reihen durch¬ wand. Unaufhaltſam, wie ein Uhrwerk, lief ſie ihren Weg, und die ſonderbare Muſik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauſchenden Tanze bey jeder Wieder¬ holung einen neuen Stoß. Wilhelm war von dem ſonderbaren Schauſpiele ganz hin¬ geriſſen, er vergas ſeiner Sorgen, folgte je¬ der Bewegung der geliebten Creatur, und war verwundert, wie in dieſem Tanze ſich ihr Charakter vorzüglich entwickelte. Streng, ſcharf, trocken, heftig, und in ſanften Stellungen mehr feyerlich als ange¬ nehm, zeigte ſie ſich. Er empfand, was er ſchon für Mignon gefühlt, in dieſem Augen¬ blicke auf einmal. Er ſehnte ſich, dieſes ver¬ laſſene Weſen an Kindesſtatt ſeinem Herzen einzuverleiben, es in ſeine Arme zu nehmen, T 2

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/299>, abgerufen am 22.11.2024.