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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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Wange an der Rinde, und die Winde der
Nacht saugten begierig den Hauch auf, der
aus dem reinen Busen bewegt hervordrang.
Er fühlte nach dem Halstuch, das er von
ihr mitgenommen hatte, es war vergessen, es
steckte im vorigen Kleide. Seine Lippen lechz¬
ten, seine Glieder zitterten vor Verlangen.

Die Musik hörte auf, und es war ihm,
als wär' er aus dem Elemente gefallen, in
dem seine Empfindungen bisher empor getra¬
gen wurden. Seine Unruhe vermehrte sich,
da seine Gefühle nicht mehr von den sanften
Tönen genährt und gelindert wurden. Er
setzte sich auf ihre Schwelle nieder, und war
schon mehr beruhigt. Er küßte den messin¬
genen Ring, womit man an ihre Thüre
pochte, er küßte die Schwelle, über die ihre
Füße aus und ein gingen, und erwärmte sie
durch das Feuer seiner Brust. Dann saß er
wieder eine Weile stille, und dachte sie hin¬

W. Meisters Lehrj. M

Wange an der Rinde, und die Winde der
Nacht ſaugten begierig den Hauch auf, der
aus dem reinen Buſen bewegt hervordrang.
Er fühlte nach dem Halstuch, das er von
ihr mitgenommen hatte, es war vergeſſen, es
ſteckte im vorigen Kleide. Seine Lippen lechz¬
ten, ſeine Glieder zitterten vor Verlangen.

Die Muſik hörte auf, und es war ihm,
als wär’ er aus dem Elemente gefallen, in
dem ſeine Empfindungen bisher empor getra¬
gen wurden. Seine Unruhe vermehrte ſich,
da ſeine Gefühle nicht mehr von den ſanften
Tönen genährt und gelindert wurden. Er
ſetzte ſich auf ihre Schwelle nieder, und war
ſchon mehr beruhigt. Er küßte den meſſin¬
genen Ring, womit man an ihre Thüre
pochte, er küßte die Schwelle, über die ihre
Füße aus und ein gingen, und erwärmte ſie
durch das Feuer ſeiner Bruſt. Dann ſaß er
wieder eine Weile ſtille, und dachte ſie hin¬

W. Meiſters Lehrj. M
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[177/0185] Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht ſaugten begierig den Hauch auf, der aus dem reinen Buſen bewegt hervordrang. Er fühlte nach dem Halstuch, das er von ihr mitgenommen hatte, es war vergeſſen, es ſteckte im vorigen Kleide. Seine Lippen lechz¬ ten, ſeine Glieder zitterten vor Verlangen. Die Muſik hörte auf, und es war ihm, als wär’ er aus dem Elemente gefallen, in dem ſeine Empfindungen bisher empor getra¬ gen wurden. Seine Unruhe vermehrte ſich, da ſeine Gefühle nicht mehr von den ſanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er ſetzte ſich auf ihre Schwelle nieder, und war ſchon mehr beruhigt. Er küßte den meſſin¬ genen Ring, womit man an ihre Thüre pochte, er küßte die Schwelle, über die ihre Füße aus und ein gingen, und erwärmte ſie durch das Feuer ſeiner Bruſt. Dann ſaß er wieder eine Weile ſtille, und dachte ſie hin¬ W. Meiſters Lehrj. M

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/185>, abgerufen am 08.05.2024.