Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

ihr seyn, werde einen Heilort für unsere Liebe
suchen, und werde sie immer mit mir haben.

Wie oft ist mirs geschehen, daß ich ab¬
wesend von ihr, in Gedanken an sie verlo¬
ren, ein Buch, ein Kleid oder sonst etwas
berührte, und glaubte ihre Hand zu fühlen,
so ganz war ich mit ihrer Gegenwart um¬
kleidet. Und jener Augenblicke mich zu erin¬
nern, die das Licht des Tages wie das Auge
des kalten Zuschauers fliehen, die zu genies¬
sen Götter den schmerzlosen Zustand der rei¬
nen Seligkeit zu verlassen sich entschließen
dürften. -- Mich zu erinnern? -- Als wenn
man den Rausch des Taumelkelchs in der
Erinnerung erneuern könnte, der unsere Sin¬
ne an himmlischen Stricken gebunden aus
aller ihrer Fassung reißt. -- Und ihre Ge¬
stalt -- -- Er verlor sich im Andenken an
sie, seine Ruhe ging in Verlangen über, er
umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße

Wan¬

ihr ſeyn, werde einen Heilort für unſere Liebe
ſuchen, und werde ſie immer mit mir haben.

Wie oft iſt mirs geſchehen, daß ich ab¬
weſend von ihr, in Gedanken an ſie verlo¬
ren, ein Buch, ein Kleid oder ſonſt etwas
berührte, und glaubte ihre Hand zu fühlen,
ſo ganz war ich mit ihrer Gegenwart um¬
kleidet. Und jener Augenblicke mich zu erin¬
nern, die das Licht des Tages wie das Auge
des kalten Zuſchauers fliehen, die zu genieſ¬
ſen Götter den ſchmerzloſen Zuſtand der rei¬
nen Seligkeit zu verlaſſen ſich entſchließen
dürften. — Mich zu erinnern? — Als wenn
man den Rauſch des Taumelkelchs in der
Erinnerung erneuern könnte, der unſere Sin¬
ne an himmliſchen Stricken gebunden aus
aller ihrer Faſſung reißt. — Und ihre Ge¬
ſtalt — — Er verlor ſich im Andenken an
ſie, ſeine Ruhe ging in Verlangen über, er
umfaßte einen Baum, kühlte ſeine heiße

Wan¬
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0184" n="176"/>
ihr &#x017F;eyn, werde einen Heilort für un&#x017F;ere Liebe<lb/>
&#x017F;uchen, und werde &#x017F;ie immer mit mir haben.</p><lb/>
            <p>Wie oft i&#x017F;t mirs ge&#x017F;chehen, daß ich ab¬<lb/>
we&#x017F;end von ihr, in Gedanken an &#x017F;ie verlo¬<lb/>
ren, ein Buch, ein Kleid oder &#x017F;on&#x017F;t etwas<lb/>
berührte, und glaubte ihre Hand zu fühlen,<lb/>
&#x017F;o ganz war ich mit ihrer Gegenwart um¬<lb/>
kleidet. Und jener Augenblicke mich zu erin¬<lb/>
nern, die das Licht des Tages wie das Auge<lb/>
des kalten Zu&#x017F;chauers fliehen, die zu genie&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en Götter den &#x017F;chmerzlo&#x017F;en Zu&#x017F;tand der rei¬<lb/>
nen Seligkeit zu verla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich ent&#x017F;chließen<lb/>
dürften. &#x2014; Mich zu erinnern? &#x2014; Als wenn<lb/>
man den Rau&#x017F;ch des Taumelkelchs in der<lb/>
Erinnerung erneuern könnte, der un&#x017F;ere Sin¬<lb/>
ne an himmli&#x017F;chen Stricken gebunden aus<lb/>
aller ihrer Fa&#x017F;&#x017F;ung reißt. &#x2014; Und ihre Ge¬<lb/>
&#x017F;talt &#x2014; &#x2014; Er verlor &#x017F;ich im Andenken an<lb/>
&#x017F;ie, &#x017F;eine Ruhe ging in Verlangen über, er<lb/>
umfaßte einen Baum, kühlte &#x017F;eine heiße<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wan¬<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0184] ihr ſeyn, werde einen Heilort für unſere Liebe ſuchen, und werde ſie immer mit mir haben. Wie oft iſt mirs geſchehen, daß ich ab¬ weſend von ihr, in Gedanken an ſie verlo¬ ren, ein Buch, ein Kleid oder ſonſt etwas berührte, und glaubte ihre Hand zu fühlen, ſo ganz war ich mit ihrer Gegenwart um¬ kleidet. Und jener Augenblicke mich zu erin¬ nern, die das Licht des Tages wie das Auge des kalten Zuſchauers fliehen, die zu genieſ¬ ſen Götter den ſchmerzloſen Zuſtand der rei¬ nen Seligkeit zu verlaſſen ſich entſchließen dürften. — Mich zu erinnern? — Als wenn man den Rauſch des Taumelkelchs in der Erinnerung erneuern könnte, der unſere Sin¬ ne an himmliſchen Stricken gebunden aus aller ihrer Faſſung reißt. — Und ihre Ge¬ ſtalt — — Er verlor ſich im Andenken an ſie, ſeine Ruhe ging in Verlangen über, er umfaßte einen Baum, kühlte ſeine heiße Wan¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/184
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/184>, abgerufen am 08.05.2024.