gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil sie bey Anlässen weder schnell noch sichtlich auflodern; auch war sein Umgang mit Wil¬ helmen ein anhaltender Zwist, wodurch sich ihre Liebe aber nur desto fester knüpfte: denn ungeachtet ihrer verschiedenen Den¬ kungsart fand jeder seine Rechnung bey dem andern. Werner that sich darauf etwas zu gute, daß er dem vortrefflichen, obgleich ge¬ legentlich ausschweifenden Geist Wilhelms mit unter Zügel und Gebiß anzulegen schien, und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er seinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit sich fortnahm. So übte sich einer an dem andern, sie wur¬ den gewohnt sich täglich zu sehen, und man hätte sagen sollen, das Verlangen einander zu finden, sich mit einander zu besprechen, sey durch die Unmöglichkeit, einander ver¬ ständlich zu werden, vermehrt worden. Im
Grun¬
gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil ſie bey Anläſſen weder ſchnell noch ſichtlich auflodern; auch war ſein Umgang mit Wil¬ helmen ein anhaltender Zwiſt, wodurch ſich ihre Liebe aber nur deſto feſter knüpfte: denn ungeachtet ihrer verſchiedenen Den¬ kungsart fand jeder ſeine Rechnung bey dem andern. Werner that ſich darauf etwas zu gute, daß er dem vortrefflichen, obgleich ge¬ legentlich ausſchweifenden Geiſt Wilhelms mit unter Zügel und Gebiß anzulegen ſchien, und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er ſeinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit ſich fortnahm. So übte ſich einer an dem andern, ſie wur¬ den gewohnt ſich täglich zu ſehen, und man hätte ſagen ſollen, das Verlangen einander zu finden, ſich mit einander zu beſprechen, ſey durch die Unmöglichkeit, einander ver¬ ſtändlich zu werden, vermehrt worden. Im
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gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil
ſie bey Anläſſen weder ſchnell noch ſichtlich
auflodern; auch war ſein Umgang mit Wil¬
helmen ein anhaltender Zwiſt, wodurch ſich
ihre Liebe aber nur deſto feſter knüpfte:
denn ungeachtet ihrer verſchiedenen Den¬
kungsart fand jeder ſeine Rechnung bey dem
andern. Werner that ſich darauf etwas zu
gute, daß er dem vortrefflichen, obgleich ge¬
legentlich ausſchweifenden Geiſt Wilhelms
mit unter Zügel und Gebiß anzulegen ſchien,
und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen
Triumph, wenn er ſeinen bedächtlichen Freund
in warmer Aufwallung mit ſich fortnahm.
So übte ſich einer an dem andern, ſie wur¬
den gewohnt ſich täglich zu ſehen, und man
hätte ſagen ſollen, das Verlangen einander
zu finden, ſich mit einander zu beſprechen,
ſey durch die Unmöglichkeit, einander ver¬
ſtändlich zu werden, vermehrt worden. Im
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/152>, abgerufen am 24.11.2024.
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