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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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die wenigen Stunden mit Du anreden mu߬
ten; so waren wir dieser traulichen Anrede
durch eine Reihe von Wochen so gewohnt,
daß auch in der Zwischenzeit, wenn wir uns
begegneten, das Du gemüthlich hervorsprang.
Die Gewohnheit ist aber ein wunderliches
Ding: wir beyde fanden nach und nach nichts
natürlicher als dieses Verhältniß; sie ward
mir immer werther, und ihre Art mit mir
zu seyn zeugte von einem schönen ruhigen
Vertrauen, so daß wir uns wohl gelegentlich,
wenn ein Priester zugegen gewesen wäre, oh¬
ne vieles Bedenken auf der Stelle hätten zu¬
sammen geben lassen.

Weil nun bey jeder unserer geselligen Zu¬
sammenkünfte etwas Neues vorgelesen wer¬
den mußte, so brachte ich eines Abends, als
ganz frische Neuigkeit, das Memoire des
Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit.
Es erwarb sich sehr vielen Beyfall; die Be¬

die wenigen Stunden mit Du anreden mu߬
ten; ſo waren wir dieſer traulichen Anrede
durch eine Reihe von Wochen ſo gewohnt,
daß auch in der Zwiſchenzeit, wenn wir uns
begegneten, das Du gemuͤthlich hervorſprang.
Die Gewohnheit iſt aber ein wunderliches
Ding: wir beyde fanden nach und nach nichts
natuͤrlicher als dieſes Verhaͤltniß; ſie ward
mir immer werther, und ihre Art mit mir
zu ſeyn zeugte von einem ſchoͤnen ruhigen
Vertrauen, ſo daß wir uns wohl gelegentlich,
wenn ein Prieſter zugegen geweſen waͤre, oh¬
ne vieles Bedenken auf der Stelle haͤtten zu¬
ſammen geben laſſen.

Weil nun bey jeder unſerer geſelligen Zu¬
ſammenkuͤnfte etwas Neues vorgeleſen wer¬
den mußte, ſo brachte ich eines Abends, als
ganz friſche Neuigkeit, das Memoire des
Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit.
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[530/0538] die wenigen Stunden mit Du anreden mu߬ ten; ſo waren wir dieſer traulichen Anrede durch eine Reihe von Wochen ſo gewohnt, daß auch in der Zwiſchenzeit, wenn wir uns begegneten, das Du gemuͤthlich hervorſprang. Die Gewohnheit iſt aber ein wunderliches Ding: wir beyde fanden nach und nach nichts natuͤrlicher als dieſes Verhaͤltniß; ſie ward mir immer werther, und ihre Art mit mir zu ſeyn zeugte von einem ſchoͤnen ruhigen Vertrauen, ſo daß wir uns wohl gelegentlich, wenn ein Prieſter zugegen geweſen waͤre, oh¬ ne vieles Bedenken auf der Stelle haͤtten zu¬ ſammen geben laſſen. Weil nun bey jeder unſerer geſelligen Zu¬ ſammenkuͤnfte etwas Neues vorgeleſen wer¬ den mußte, ſo brachte ich eines Abends, als ganz friſche Neuigkeit, das Memoire des Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit. Es erwarb ſich ſehr vielen Beyfall; die Be¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/538>, abgerufen am 09.05.2024.