Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

ches als Beyspiel alles Wünschenswerthen gel¬
ten konnte. Die Schriften die uns unter dem
Namen Hippocrates zugekommen waren,
gaben das Muster, wie der Mensch die Welt
anschauen und das Gesehene, ohne sich selbst
hinein zu mischen, überliefern sollte. Allein
Niemand bedachte, daß wir nicht sehen kön¬
nen wie die Griechen, und daß wir niemals
wie sie dichten, bilden und heilen werden.
Zugegeben aber auch, daß man von ihnen
lernen könne, so war unterdessen unendlich
viel und nicht immer so rein erfahren wor¬
den, und gar oft hatten sich die Erfahrungen
nach den Meinungen gebildet. Dieses aber
sollte man auch wissen, unterscheiden und sich¬
ten; abermals eine ungeheure Forderung;
dann sollte man auch persönlich umher bli¬
ckend und handelnd, die gesunde Natur selbst
kennen lernen, eben als wenn sie zum ersten¬
mal beachtet und behandelt würde; hiebey
sollte denn nur das Aechte und Rechte ge¬

ches als Beyſpiel alles Wuͤnſchenswerthen gel¬
ten konnte. Die Schriften die uns unter dem
Namen Hippocrates zugekommen waren,
gaben das Muſter, wie der Menſch die Welt
anſchauen und das Geſehene, ohne ſich ſelbſt
hinein zu miſchen, uͤberliefern ſollte. Allein
Niemand bedachte, daß wir nicht ſehen koͤn¬
nen wie die Griechen, und daß wir niemals
wie ſie dichten, bilden und heilen werden.
Zugegeben aber auch, daß man von ihnen
lernen koͤnne, ſo war unterdeſſen unendlich
viel und nicht immer ſo rein erfahren wor¬
den, und gar oft hatten ſich die Erfahrungen
nach den Meinungen gebildet. Dieſes aber
ſollte man auch wiſſen, unterſcheiden und ſich¬
ten; abermals eine ungeheure Forderung;
dann ſollte man auch perſoͤnlich umher bli¬
ckend und handelnd, die geſunde Natur ſelbſt
kennen lernen, eben als wenn ſie zum erſten¬
mal beachtet und behandelt wuͤrde; hiebey
ſollte denn nur das Aechte und Rechte ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0527" n="519"/>
ches als Bey&#x017F;piel alles Wu&#x0364;n&#x017F;chenswerthen gel¬<lb/>
ten konnte. Die Schriften die uns unter dem<lb/>
Namen <hi rendition="#g">Hippocrates</hi> zugekommen waren,<lb/>
gaben das Mu&#x017F;ter, wie der Men&#x017F;ch die Welt<lb/>
an&#x017F;chauen und das Ge&#x017F;ehene, ohne &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
hinein zu mi&#x017F;chen, u&#x0364;berliefern &#x017F;ollte. Allein<lb/>
Niemand bedachte, daß wir nicht &#x017F;ehen ko&#x0364;<lb/>
nen wie die Griechen, und daß wir niemals<lb/>
wie &#x017F;ie dichten, bilden und heilen werden.<lb/>
Zugegeben aber auch, daß man von ihnen<lb/>
lernen ko&#x0364;nne, &#x017F;o war unterde&#x017F;&#x017F;en unendlich<lb/>
viel und nicht immer &#x017F;o rein erfahren wor¬<lb/>
den, und gar oft hatten &#x017F;ich die Erfahrungen<lb/>
nach den Meinungen gebildet. Die&#x017F;es aber<lb/>
&#x017F;ollte man auch wi&#x017F;&#x017F;en, unter&#x017F;cheiden und &#x017F;ich¬<lb/>
ten; abermals eine ungeheure Forderung;<lb/>
dann &#x017F;ollte man auch per&#x017F;o&#x0364;nlich umher bli¬<lb/>
ckend und handelnd, die ge&#x017F;unde Natur &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
kennen lernen, eben als wenn &#x017F;ie zum er&#x017F;ten¬<lb/>
mal beachtet und behandelt wu&#x0364;rde; hiebey<lb/>
&#x017F;ollte denn nur das Aechte und Rechte ge¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[519/0527] ches als Beyſpiel alles Wuͤnſchenswerthen gel¬ ten konnte. Die Schriften die uns unter dem Namen Hippocrates zugekommen waren, gaben das Muſter, wie der Menſch die Welt anſchauen und das Geſehene, ohne ſich ſelbſt hinein zu miſchen, uͤberliefern ſollte. Allein Niemand bedachte, daß wir nicht ſehen koͤn¬ nen wie die Griechen, und daß wir niemals wie ſie dichten, bilden und heilen werden. Zugegeben aber auch, daß man von ihnen lernen koͤnne, ſo war unterdeſſen unendlich viel und nicht immer ſo rein erfahren wor¬ den, und gar oft hatten ſich die Erfahrungen nach den Meinungen gebildet. Dieſes aber ſollte man auch wiſſen, unterſcheiden und ſich¬ ten; abermals eine ungeheure Forderung; dann ſollte man auch perſoͤnlich umher bli¬ ckend und handelnd, die geſunde Natur ſelbſt kennen lernen, eben als wenn ſie zum erſten¬ mal beachtet und behandelt wuͤrde; hiebey ſollte denn nur das Aechte und Rechte ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/527
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/527>, abgerufen am 10.05.2024.