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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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meiner Zuhörer erheiterten sich sogleich, und
es schien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬
mals zu einer Vergleichung genöthigt zu seyn.
Hatten sie zu Raymond und Melusine comi¬
sche Gegenbilder gefunden, so erblickten sie
hier sich selbst in einem Spiegel, der keines¬
wegs verhäßlichte. Man gestand sich's nicht
ausdrücklich, aber man verleugnete es nicht,
daß man sich unter Geistes- und Gefühlsver¬
wandten bewege.

Alle Menschen guter Art empfinden bey
zunehmender Bildung, daß sie auf der Welt
eine doppelte Rolle zu spielen haben, eine
wirkliche und eine ideelle, und in diesem Ge¬
fühl ist der Grund alles Edlen aufzusuchen.
Was uns für eine wirkliche zugetheilt sey, er¬
fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte
betrifft, darüber können wir selten in's Klare
kommen. Der Mensch mag seine höhere Be¬
stimmung auf Erden oder im Himmel, in
der Gegenwart oder in der Zukunft suchen,

meiner Zuhoͤrer erheiterten ſich ſogleich, und
es ſchien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬
mals zu einer Vergleichung genoͤthigt zu ſeyn.
Hatten ſie zu Raymond und Meluſine comi¬
ſche Gegenbilder gefunden, ſo erblickten ſie
hier ſich ſelbſt in einem Spiegel, der keines¬
wegs verhaͤßlichte. Man geſtand ſich's nicht
ausdruͤcklich, aber man verleugnete es nicht,
daß man ſich unter Geiſtes- und Gefuͤhlsver¬
wandten bewege.

Alle Menſchen guter Art empfinden bey
zunehmender Bildung, daß ſie auf der Welt
eine doppelte Rolle zu ſpielen haben, eine
wirkliche und eine ideelle, und in dieſem Ge¬
fuͤhl iſt der Grund alles Edlen aufzuſuchen.
Was uns fuͤr eine wirkliche zugetheilt ſey, er¬
fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte
betrifft, daruͤber koͤnnen wir ſelten in's Klare
kommen. Der Menſch mag ſeine hoͤhere Be¬
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[37/0045] meiner Zuhoͤrer erheiterten ſich ſogleich, und es ſchien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬ mals zu einer Vergleichung genoͤthigt zu ſeyn. Hatten ſie zu Raymond und Meluſine comi¬ ſche Gegenbilder gefunden, ſo erblickten ſie hier ſich ſelbſt in einem Spiegel, der keines¬ wegs verhaͤßlichte. Man geſtand ſich's nicht ausdruͤcklich, aber man verleugnete es nicht, daß man ſich unter Geiſtes- und Gefuͤhlsver¬ wandten bewege. Alle Menſchen guter Art empfinden bey zunehmender Bildung, daß ſie auf der Welt eine doppelte Rolle zu ſpielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in dieſem Ge¬ fuͤhl iſt der Grund alles Edlen aufzuſuchen. Was uns fuͤr eine wirkliche zugetheilt ſey, er¬ fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte betrifft, daruͤber koͤnnen wir ſelten in's Klare kommen. Der Menſch mag ſeine hoͤhere Be¬ ſtimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft ſuchen,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/45>, abgerufen am 25.04.2024.