Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

zur Sprache kam, erbot ich mich, meine
neusten und liebsten Balladen zu recitiren.
Der König von Thule, und "Es war ein
Bube frech genung" thaten gute Wirkung,
und ich trug sie um so gemüthlicher vor, als
meine Gedichte mir noch ans Herz geknüpft
waren, und nur selten über die Lippen ka¬
men. Denn mich hinderten leicht gewisse ge¬
genwärtige Personen, denen mein überzartes
Gefühl vielleicht unrecht thun mochte; ich
ward manchmal mitten im Recitiren irre und
konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie
oft bin ich nicht deshalb des Eigensinns und
eines wunderlichen grillenhaften Wesens ange¬
klagt worden!

Ob mich nun gleich die dichterische Dar¬
stellungsweise am meisten beschäftigte, und
meinem Naturell eigentlich zusagte, so war
mir doch auch das Nachdenken über Gegen¬
stände aller Art nicht fremd, und Jacobi's

zur Sprache kam, erbot ich mich, meine
neuſten und liebſten Balladen zu recitiren.
Der Koͤnig von Thule, und „Es war ein
Bube frech genung“ thaten gute Wirkung,
und ich trug ſie um ſo gemuͤthlicher vor, als
meine Gedichte mir noch ans Herz geknuͤpft
waren, und nur ſelten uͤber die Lippen ka¬
men. Denn mich hinderten leicht gewiſſe ge¬
genwaͤrtige Perſonen, denen mein uͤberzartes
Gefuͤhl vielleicht unrecht thun mochte; ich
ward manchmal mitten im Recitiren irre und
konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie
oft bin ich nicht deshalb des Eigenſinns und
eines wunderlichen grillenhaften Weſens ange¬
klagt worden!

Ob mich nun gleich die dichteriſche Dar¬
ſtellungsweiſe am meiſten beſchaͤftigte, und
meinem Naturell eigentlich zuſagte, ſo war
mir doch auch das Nachdenken uͤber Gegen¬
ſtaͤnde aller Art nicht fremd, und Jacobi's

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0447" n="439"/>
zur Sprache kam, erbot ich mich, meine<lb/>
neu&#x017F;ten und lieb&#x017F;ten Balladen zu recitiren.<lb/>
Der Ko&#x0364;nig von Thule, und &#x201E;Es war ein<lb/>
Bube frech genung&#x201C; thaten gute Wirkung,<lb/>
und ich trug &#x017F;ie um &#x017F;o gemu&#x0364;thlicher vor, als<lb/>
meine Gedichte mir noch ans Herz geknu&#x0364;pft<lb/>
waren, und nur &#x017F;elten u&#x0364;ber die Lippen ka¬<lb/>
men. Denn mich hinderten leicht gewi&#x017F;&#x017F;e ge¬<lb/>
genwa&#x0364;rtige Per&#x017F;onen, denen mein u&#x0364;berzartes<lb/>
Gefu&#x0364;hl vielleicht unrecht thun mochte; ich<lb/>
ward manchmal mitten im Recitiren irre und<lb/>
konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie<lb/>
oft bin ich nicht deshalb des Eigen&#x017F;inns und<lb/>
eines wunderlichen grillenhaften We&#x017F;ens ange¬<lb/>
klagt worden!</p><lb/>
        <p>Ob mich nun gleich die dichteri&#x017F;che Dar¬<lb/>
&#x017F;tellungswei&#x017F;e am mei&#x017F;ten be&#x017F;cha&#x0364;ftigte, und<lb/>
meinem Naturell eigentlich zu&#x017F;agte, &#x017F;o war<lb/>
mir doch auch das Nachdenken u&#x0364;ber Gegen¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nde aller Art nicht fremd, und Jacobi's<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[439/0447] zur Sprache kam, erbot ich mich, meine neuſten und liebſten Balladen zu recitiren. Der Koͤnig von Thule, und „Es war ein Bube frech genung“ thaten gute Wirkung, und ich trug ſie um ſo gemuͤthlicher vor, als meine Gedichte mir noch ans Herz geknuͤpft waren, und nur ſelten uͤber die Lippen ka¬ men. Denn mich hinderten leicht gewiſſe ge¬ genwaͤrtige Perſonen, denen mein uͤberzartes Gefuͤhl vielleicht unrecht thun mochte; ich ward manchmal mitten im Recitiren irre und konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie oft bin ich nicht deshalb des Eigenſinns und eines wunderlichen grillenhaften Weſens ange¬ klagt worden! Ob mich nun gleich die dichteriſche Dar¬ ſtellungsweiſe am meiſten beſchaͤftigte, und meinem Naturell eigentlich zuſagte, ſo war mir doch auch das Nachdenken uͤber Gegen¬ ſtaͤnde aller Art nicht fremd, und Jacobi's

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/447
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/447>, abgerufen am 12.05.2024.