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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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zog, den Faden seiner Abhandlung so ruhig
dictirend aufnahm, als wenn weiter nichts
gewesen wäre.

Wir machten dann zusammen auch man¬
che Fahrt in die Nachbarschaft, besuchten die
Schlösser, besonders adlicher Frauen, welche
durchaus mehr als die Männer geneigt wa¬
ren, etwas Geistiges und Geistliches aufzuneh¬
men. Zu Nassau, bey Frau von Stein,
einer höchstehrwürdigen Dame, die der allge¬
meinsten Achtung genoß, fanden wir große
Gesellschaft. Frau von Laroche war gleichfalls
gegenwärtig, an jungen Frauenzimmern und
Kindern fehlte es auch nicht. Hier sollte nun
Lavater in physiognomische Versuchung geführt
werden, welche meist darin bestand, daß man
ihn verleiten wollte, Zufälligkeiten der Bil¬
dung für Grundform zu halten; er war aber
beaugt genug, um sich nicht täuschen zu las¬
sen. Ich sollte nach wie vor die Wahrhaf¬
tigkeit der Leiden Werthers und den Wohn¬

zog, den Faden ſeiner Abhandlung ſo ruhig
dictirend aufnahm, als wenn weiter nichts
geweſen waͤre.

Wir machten dann zuſammen auch man¬
che Fahrt in die Nachbarſchaft, beſuchten die
Schloͤſſer, beſonders adlicher Frauen, welche
durchaus mehr als die Maͤnner geneigt wa¬
ren, etwas Geiſtiges und Geiſtliches aufzuneh¬
men. Zu Naſſau, bey Frau von Stein,
einer hoͤchſtehrwuͤrdigen Dame, die der allge¬
meinſten Achtung genoß, fanden wir große
Geſellſchaft. Frau von Laroche war gleichfalls
gegenwaͤrtig, an jungen Frauenzimmern und
Kindern fehlte es auch nicht. Hier ſollte nun
Lavater in phyſiognomiſche Verſuchung gefuͤhrt
werden, welche meiſt darin beſtand, daß man
ihn verleiten wollte, Zufaͤlligkeiten der Bil¬
dung fuͤr Grundform zu halten; er war aber
beaugt genug, um ſich nicht taͤuſchen zu laſ¬
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[424/0432] zog, den Faden ſeiner Abhandlung ſo ruhig dictirend aufnahm, als wenn weiter nichts geweſen waͤre. Wir machten dann zuſammen auch man¬ che Fahrt in die Nachbarſchaft, beſuchten die Schloͤſſer, beſonders adlicher Frauen, welche durchaus mehr als die Maͤnner geneigt wa¬ ren, etwas Geiſtiges und Geiſtliches aufzuneh¬ men. Zu Naſſau, bey Frau von Stein, einer hoͤchſtehrwuͤrdigen Dame, die der allge¬ meinſten Achtung genoß, fanden wir große Geſellſchaft. Frau von Laroche war gleichfalls gegenwaͤrtig, an jungen Frauenzimmern und Kindern fehlte es auch nicht. Hier ſollte nun Lavater in phyſiognomiſche Verſuchung gefuͤhrt werden, welche meiſt darin beſtand, daß man ihn verleiten wollte, Zufaͤlligkeiten der Bil¬ dung fuͤr Grundform zu halten; er war aber beaugt genug, um ſich nicht taͤuſchen zu laſ¬ ſen. Ich ſollte nach wie vor die Wahrhaf¬ tigkeit der Leiden Werthers und den Wohn¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/432>, abgerufen am 24.11.2024.