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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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lange gedauert, als er mir und andern an¬
kündigte, er werde bald, auf einer vorzuneh¬
menden Rheinreise, in Frankfurt einsprechen.
Sogleich entstand im Publicum die größte
Bewegung; alle waren neugierig, einen so
merkwürdigen Mann zu sehn; viele hofften
für ihre sittliche und religiöse Bildung zu ge¬
winnen; die Zweifler dachten sich mit bedeu¬
tenden Einwendungen hervorzuthun, die Ein¬
bildischen waren gewiß, ihn durch Argumente,
in denen sie sich selbst bestärkt hatten, zu ver¬
wirren und zu beschämen, und was sonst al¬
les Williges und Unwilliges einen bemerkten
Menschen erwartet, der sich mit dieser ge¬
mischten Welt abzugeben gedenkt.

Unser erstes Begegnen war herzlich; wir
umarmten uns aufs freundlichste, und ich fand
ihn gleich wie mir ihn so manche Bilder schon
überliefert hatten. Ein Individuum, einzig,
ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat
und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig

lange gedauert, als er mir und andern an¬
kuͤndigte, er werde bald, auf einer vorzuneh¬
menden Rheinreiſe, in Frankfurt einſprechen.
Sogleich entſtand im Publicum die groͤßte
Bewegung; alle waren neugierig, einen ſo
merkwuͤrdigen Mann zu ſehn; viele hofften
fuͤr ihre ſittliche und religioͤſe Bildung zu ge¬
winnen; die Zweifler dachten ſich mit bedeu¬
tenden Einwendungen hervorzuthun, die Ein¬
bildiſchen waren gewiß, ihn durch Argumente,
in denen ſie ſich ſelbſt beſtaͤrkt hatten, zu ver¬
wirren und zu beſchaͤmen, und was ſonſt al¬
les Williges und Unwilliges einen bemerkten
Menſchen erwartet, der ſich mit dieſer ge¬
miſchten Welt abzugeben gedenkt.

Unſer erſtes Begegnen war herzlich; wir
umarmten uns aufs freundlichſte, und ich fand
ihn gleich wie mir ihn ſo manche Bilder ſchon
uͤberliefert hatten. Ein Individuum, einzig,
ausgezeichnet wie man es nicht geſehn hat
und nicht wieder ſehn wird, ſah ich lebendig

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[402/0410] lange gedauert, als er mir und andern an¬ kuͤndigte, er werde bald, auf einer vorzuneh¬ menden Rheinreiſe, in Frankfurt einſprechen. Sogleich entſtand im Publicum die groͤßte Bewegung; alle waren neugierig, einen ſo merkwuͤrdigen Mann zu ſehn; viele hofften fuͤr ihre ſittliche und religioͤſe Bildung zu ge¬ winnen; die Zweifler dachten ſich mit bedeu¬ tenden Einwendungen hervorzuthun, die Ein¬ bildiſchen waren gewiß, ihn durch Argumente, in denen ſie ſich ſelbſt beſtaͤrkt hatten, zu ver¬ wirren und zu beſchaͤmen, und was ſonſt al¬ les Williges und Unwilliges einen bemerkten Menſchen erwartet, der ſich mit dieſer ge¬ miſchten Welt abzugeben gedenkt. Unſer erſtes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichſte, und ich fand ihn gleich wie mir ihn ſo manche Bilder ſchon uͤberliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht geſehn hat und nicht wieder ſehn wird, ſah ich lebendig

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/410>, abgerufen am 13.05.2024.