Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

So viel wüßte ich mich davon zu erin¬
nern: denn es ist mir nie wieder unter die
Augen gekommen. Die Vignette hatte ich
ausgeschnitten und unter meine liebsten Kupfer
gelegt. Dann verfaßte ich, zur stillen und
unverfänglichen Rache, ein kleines Spottge¬
dicht, Nicolai auf Werthers Grabe,
welches sich jedoch nicht mittheilen läßt. Auch
die Lust alles zu dramatisiren, ward bey die¬
ser Gelegenheit abermals rege. Ich schrieb
einen prosaischen Dialog zwischen Lotte und
Werther, der ziemlich neckisch ausfiel. Wer¬
ther beschwert sich bitterlich, daß die Erlösung
durch Hühnerblut so schlecht abgelaufen. Er
ist zwar am Leben geblieben, hat sich aber
die Augen ausgeschossen. Nun ist er in Ver¬
zweiflung, ihr Gatte zu seyn und sie nicht
sehen zu können, da ihm der Anblick ihres
Gesammtwesens fast lieber wäre, als die fü¬
ßen Einzelnheiten, deren er sich durchs Ge¬
fühl versichern darf. Lotten, wie man sie
kennt, ist mit einem blinden Manne auch

So viel wuͤßte ich mich davon zu erin¬
nern: denn es iſt mir nie wieder unter die
Augen gekommen. Die Vignette hatte ich
ausgeſchnitten und unter meine liebſten Kupfer
gelegt. Dann verfaßte ich, zur ſtillen und
unverfaͤnglichen Rache, ein kleines Spottge¬
dicht, Nicolai auf Werthers Grabe,
welches ſich jedoch nicht mittheilen laͤßt. Auch
die Luſt alles zu dramatiſiren, ward bey die¬
ſer Gelegenheit abermals rege. Ich ſchrieb
einen proſaiſchen Dialog zwiſchen Lotte und
Werther, der ziemlich neckiſch ausfiel. Wer¬
ther beſchwert ſich bitterlich, daß die Erloͤſung
durch Huͤhnerblut ſo ſchlecht abgelaufen. Er
iſt zwar am Leben geblieben, hat ſich aber
die Augen ausgeſchoſſen. Nun iſt er in Ver¬
zweiflung, ihr Gatte zu ſeyn und ſie nicht
ſehen zu koͤnnen, da ihm der Anblick ihres
Geſammtweſens faſt lieber waͤre, als die fuͤ¬
ßen Einzelnheiten, deren er ſich durchs Ge¬
fuͤhl verſichern darf. Lotten, wie man ſie
kennt, iſt mit einem blinden Manne auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0360" n="352"/>
        <p>So viel wu&#x0364;ßte ich mich davon zu erin¬<lb/>
nern: denn es i&#x017F;t mir nie wieder unter die<lb/>
Augen gekommen. Die Vignette hatte ich<lb/>
ausge&#x017F;chnitten und unter meine lieb&#x017F;ten Kupfer<lb/>
gelegt. Dann verfaßte ich, zur &#x017F;tillen und<lb/>
unverfa&#x0364;nglichen Rache, ein kleines Spottge¬<lb/>
dicht, <hi rendition="#g">Nicolai auf Werthers Grabe</hi>,<lb/>
welches &#x017F;ich jedoch nicht mittheilen la&#x0364;ßt. Auch<lb/>
die Lu&#x017F;t alles zu dramati&#x017F;iren, ward bey die¬<lb/>
&#x017F;er Gelegenheit abermals rege. Ich &#x017F;chrieb<lb/>
einen pro&#x017F;ai&#x017F;chen Dialog zwi&#x017F;chen Lotte und<lb/>
Werther, der ziemlich necki&#x017F;ch ausfiel. Wer¬<lb/>
ther be&#x017F;chwert &#x017F;ich bitterlich, daß die Erlo&#x0364;&#x017F;ung<lb/>
durch Hu&#x0364;hnerblut &#x017F;o &#x017F;chlecht abgelaufen. Er<lb/>
i&#x017F;t zwar am Leben geblieben, hat &#x017F;ich aber<lb/>
die Augen ausge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en. Nun i&#x017F;t er in Ver¬<lb/>
zweiflung, ihr Gatte zu &#x017F;eyn und &#x017F;ie nicht<lb/>
&#x017F;ehen zu ko&#x0364;nnen, da ihm der Anblick ihres<lb/>
Ge&#x017F;ammtwe&#x017F;ens fa&#x017F;t lieber wa&#x0364;re, als die fu&#x0364;¬<lb/>
ßen Einzelnheiten, deren er &#x017F;ich durchs Ge¬<lb/>
fu&#x0364;hl ver&#x017F;ichern darf. Lotten, wie man &#x017F;ie<lb/>
kennt, i&#x017F;t mit einem blinden Manne auch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0360] So viel wuͤßte ich mich davon zu erin¬ nern: denn es iſt mir nie wieder unter die Augen gekommen. Die Vignette hatte ich ausgeſchnitten und unter meine liebſten Kupfer gelegt. Dann verfaßte ich, zur ſtillen und unverfaͤnglichen Rache, ein kleines Spottge¬ dicht, Nicolai auf Werthers Grabe, welches ſich jedoch nicht mittheilen laͤßt. Auch die Luſt alles zu dramatiſiren, ward bey die¬ ſer Gelegenheit abermals rege. Ich ſchrieb einen proſaiſchen Dialog zwiſchen Lotte und Werther, der ziemlich neckiſch ausfiel. Wer¬ ther beſchwert ſich bitterlich, daß die Erloͤſung durch Huͤhnerblut ſo ſchlecht abgelaufen. Er iſt zwar am Leben geblieben, hat ſich aber die Augen ausgeſchoſſen. Nun iſt er in Ver¬ zweiflung, ihr Gatte zu ſeyn und ſie nicht ſehen zu koͤnnen, da ihm der Anblick ihres Geſammtweſens faſt lieber waͤre, als die fuͤ¬ ßen Einzelnheiten, deren er ſich durchs Ge¬ fuͤhl verſichern darf. Lotten, wie man ſie kennt, iſt mit einem blinden Manne auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/360
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/360>, abgerufen am 12.05.2024.