verursacht ward, schüttelte mich aus dem Traum, und weil ich nicht bloß mit Beschau¬ lichkeit das was ihm und mir begegnet, be¬ trachtete, sondern das Aehnliche was mir im Augenblicke selbst widerfuhr, mich in leiden¬ schaftliche Bewegung setzte; so konnte es nicht fehlen, daß ich jener Production die ich eben unternahm, alle die Gluth einhauchte, welche keine Unterscheidung zwischen dem Dich¬ terischen und dem Wirklichen zuläßt. Ich hatte mich äußerlich völlig isolirt, ja die Besuche meiner Freunde verbeten, und so legte ich auch innerlich alles bey Seite, was nicht unmittelbar hierher gehörte. Dagegen faßte ich alles zusammen, was einigen Be¬ zug auf meinen Vorsatz hatte, und wieder¬ holte mir mein nächstes Leben, von dessen Inhalt ich noch keinen dichterischen Gebrauch gemacht hatte. Unter solchen Umständen, nach so langen und vielen geheimen Vorberei¬ tungen, schrieb ich den Werther in vier Wochen, ohne daß ein Schema des Ganzen, oder die
verurſacht ward, ſchuͤttelte mich aus dem Traum, und weil ich nicht bloß mit Beſchau¬ lichkeit das was ihm und mir begegnet, be¬ trachtete, ſondern das Aehnliche was mir im Augenblicke ſelbſt widerfuhr, mich in leiden¬ ſchaftliche Bewegung ſetzte; ſo konnte es nicht fehlen, daß ich jener Production die ich eben unternahm, alle die Gluth einhauchte, welche keine Unterſcheidung zwiſchen dem Dich¬ teriſchen und dem Wirklichen zulaͤßt. Ich hatte mich aͤußerlich voͤllig iſolirt, ja die Beſuche meiner Freunde verbeten, und ſo legte ich auch innerlich alles bey Seite, was nicht unmittelbar hierher gehoͤrte. Dagegen faßte ich alles zuſammen, was einigen Be¬ zug auf meinen Vorſatz hatte, und wieder¬ holte mir mein naͤchſtes Leben, von deſſen Inhalt ich noch keinen dichteriſchen Gebrauch gemacht hatte. Unter ſolchen Umſtaͤnden, nach ſo langen und vielen geheimen Vorberei¬ tungen, ſchrieb ich den Werther in vier Wochen, ohne daß ein Schema des Ganzen, oder die
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Traum, und weil ich nicht bloß mit Beſchau¬
lichkeit das was ihm und mir begegnet, be¬
trachtete, ſondern das Aehnliche was mir im
Augenblicke ſelbſt widerfuhr, mich in leiden¬
ſchaftliche Bewegung ſetzte; ſo konnte es nicht
fehlen, daß ich jener Production die ich
eben unternahm, alle die Gluth einhauchte,
welche keine Unterſcheidung zwiſchen dem Dich¬
teriſchen und dem Wirklichen zulaͤßt. Ich
hatte mich aͤußerlich voͤllig iſolirt, ja die
Beſuche meiner Freunde verbeten, und ſo
legte ich auch innerlich alles bey Seite, was
nicht unmittelbar hierher gehoͤrte. Dagegen
faßte ich alles zuſammen, was einigen Be¬
zug auf meinen Vorſatz hatte, und wieder¬
holte mir mein naͤchſtes Leben, von deſſen
Inhalt ich noch keinen dichteriſchen Gebrauch
gemacht hatte. Unter ſolchen Umſtaͤnden,
nach ſo langen und vielen geheimen Vorberei¬
tungen, ſchrieb ich den Werther in vier Wochen,
ohne daß ein Schema des Ganzen, oder die
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/351>, abgerufen am 23.11.2024.
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