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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Ei¬
genschaften, die man von geistreichen gebil¬
deten Menschen rühmen kann; aber das alles
zusammengenommen macht noch keinen Poe¬
ten. Die wahre Poesie kündet sich dadurch
an, daß sie, als ein weltliches Evangelium,
durch innere Heiterkeit, durch äußeres Beha¬
gen, uns von den irdischen Lasten zu befreyen
weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luft¬
ballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns
anhängt, in höhere Regionen, und läßt die
verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelper¬
spective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬
tersten wie die ernstesten Werke haben den
gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche
Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen.
Man betrachte nun in diesem Sinne die
Mehrzahl der englischen meist moralisch-di¬
dactischen Gedichte, und sie werden im Durch¬
schnitt nur einen düstern Ueberdruß des Le¬
bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬
ken allein, wo dieses Thema vorzüglich durch¬

leidenſchaftliches Wirken: die herrlichſten Ei¬
genſchaften, die man von geiſtreichen gebil¬
deten Menſchen ruͤhmen kann; aber das alles
zuſammengenommen macht noch keinen Poe¬
ten. Die wahre Poeſie kuͤndet ſich dadurch
an, daß ſie, als ein weltliches Evangelium,
durch innere Heiterkeit, durch aͤußeres Beha¬
gen, uns von den irdiſchen Laſten zu befreyen
weiß, die auf uns druͤcken. Wie ein Luft¬
ballon hebt ſie uns mit dem Ballaſt der uns
anhaͤngt, in hoͤhere Regionen, und laͤßt die
verwirrten Irrgaͤnge der Erde in Vogelper¬
ſpective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬
terſten wie die ernſteſten Werke haben den
gleichen Zweck, durch eine gluͤckliche geiſtreiche
Darſtellung ſo Luſt als Schmerz zu maͤßigen.
Man betrachte nun in dieſem Sinne die
Mehrzahl der engliſchen meiſt moraliſch-di¬
dactiſchen Gedichte, und ſie werden im Durch¬
ſchnitt nur einen duͤſtern Ueberdruß des Le¬
bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬
ken allein, wo dieſes Thema vorzuͤglich durch¬

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[327/0335] leidenſchaftliches Wirken: die herrlichſten Ei¬ genſchaften, die man von geiſtreichen gebil¬ deten Menſchen ruͤhmen kann; aber das alles zuſammengenommen macht noch keinen Poe¬ ten. Die wahre Poeſie kuͤndet ſich dadurch an, daß ſie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch aͤußeres Beha¬ gen, uns von den irdiſchen Laſten zu befreyen weiß, die auf uns druͤcken. Wie ein Luft¬ ballon hebt ſie uns mit dem Ballaſt der uns anhaͤngt, in hoͤhere Regionen, und laͤßt die verwirrten Irrgaͤnge der Erde in Vogelper¬ ſpective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬ terſten wie die ernſteſten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine gluͤckliche geiſtreiche Darſtellung ſo Luſt als Schmerz zu maͤßigen. Man betrachte nun in dieſem Sinne die Mehrzahl der engliſchen meiſt moraliſch-di¬ dactiſchen Gedichte, und ſie werden im Durch¬ ſchnitt nur einen duͤſtern Ueberdruß des Le¬ bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬ ken allein, wo dieſes Thema vorzuͤglich durch¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/335>, abgerufen am 18.05.2024.