Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

sie sich durchaus im Leben gebildet hatten, und
daß man von den Eigenschaften ihres Kunst¬
characters niemals sprechen konnte, ohne ih¬
ren persönlichen Gemüthscharacter zugleich mit¬
zuerwähnen. Bey Dichtern schien dieß weni¬
ger der Fall; überall aber trat Natur und
Kunst nur durch Leben in Berührung, und
so blieb das Resultat von allem meinen Sin¬
nen und Trachten jener alte Vorsatz, die in¬
nere und äußere Natur zu erforschen, und in
liebevoller Nachahmung sie eben selbst walten
zu lassen.

Zu diesen Wirkungen, welche weder Tag
noch Nacht in mir ruhten, lagen zwey große,
ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reich¬
thum ich nur einigermaßen zu schätzen brauch¬
te, um etwas Bedeutendes hervorzubringen.
Es war die ältere Epoche, in welche das Le¬
ben Goetzens von Berlichingen fällt, und die
neuere, deren unglückliche Blüte im Werther
geschildert ist.

15*

ſie ſich durchaus im Leben gebildet hatten, und
daß man von den Eigenſchaften ihres Kunſt¬
characters niemals ſprechen konnte, ohne ih¬
ren perſoͤnlichen Gemuͤthscharacter zugleich mit¬
zuerwaͤhnen. Bey Dichtern ſchien dieß weni¬
ger der Fall; uͤberall aber trat Natur und
Kunſt nur durch Leben in Beruͤhrung, und
ſo blieb das Reſultat von allem meinen Sin¬
nen und Trachten jener alte Vorſatz, die in¬
nere und aͤußere Natur zu erforſchen, und in
liebevoller Nachahmung ſie eben ſelbſt walten
zu laſſen.

Zu dieſen Wirkungen, welche weder Tag
noch Nacht in mir ruhten, lagen zwey große,
ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reich¬
thum ich nur einigermaßen zu ſchaͤtzen brauch¬
te, um etwas Bedeutendes hervorzubringen.
Es war die aͤltere Epoche, in welche das Le¬
ben Goetzens von Berlichingen faͤllt, und die
neuere, deren ungluͤckliche Bluͤte im Werther
geſchildert iſt.

15*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0235" n="227"/>
&#x017F;ie &#x017F;ich durchaus im Leben gebildet hatten, und<lb/>
daß man von den Eigen&#x017F;chaften ihres Kun&#x017F;<lb/>
characters niemals &#x017F;prechen konnte, ohne ih¬<lb/>
ren per&#x017F;o&#x0364;nlichen Gemu&#x0364;thscharacter zugleich mit¬<lb/>
zuerwa&#x0364;hnen. Bey Dichtern &#x017F;chien dieß weni¬<lb/>
ger der Fall; u&#x0364;berall aber trat Natur und<lb/>
Kun&#x017F;t nur durch Leben in Beru&#x0364;hrung, und<lb/>
&#x017F;o blieb das Re&#x017F;ultat von allem meinen Sin¬<lb/>
nen und Trachten jener alte Vor&#x017F;atz, die in¬<lb/>
nere und a&#x0364;ußere Natur zu erfor&#x017F;chen, und in<lb/>
liebevoller Nachahmung &#x017F;ie eben &#x017F;elb&#x017F;t walten<lb/>
zu la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Zu die&#x017F;en Wirkungen, welche weder Tag<lb/>
noch Nacht in mir ruhten, lagen zwey große,<lb/>
ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reich¬<lb/>
thum ich nur einigermaßen zu &#x017F;cha&#x0364;tzen brauch¬<lb/>
te, um etwas Bedeutendes hervorzubringen.<lb/>
Es war die a&#x0364;ltere Epoche, in welche das Le¬<lb/>
ben Goetzens von Berlichingen fa&#x0364;llt, und die<lb/>
neuere, deren unglu&#x0364;ckliche Blu&#x0364;te im Werther<lb/>
ge&#x017F;childert i&#x017F;t.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">15*<lb/></fw>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[227/0235] ſie ſich durchaus im Leben gebildet hatten, und daß man von den Eigenſchaften ihres Kunſt¬ characters niemals ſprechen konnte, ohne ih¬ ren perſoͤnlichen Gemuͤthscharacter zugleich mit¬ zuerwaͤhnen. Bey Dichtern ſchien dieß weni¬ ger der Fall; uͤberall aber trat Natur und Kunſt nur durch Leben in Beruͤhrung, und ſo blieb das Reſultat von allem meinen Sin¬ nen und Trachten jener alte Vorſatz, die in¬ nere und aͤußere Natur zu erforſchen, und in liebevoller Nachahmung ſie eben ſelbſt walten zu laſſen. Zu dieſen Wirkungen, welche weder Tag noch Nacht in mir ruhten, lagen zwey große, ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reich¬ thum ich nur einigermaßen zu ſchaͤtzen brauch¬ te, um etwas Bedeutendes hervorzubringen. Es war die aͤltere Epoche, in welche das Le¬ ben Goetzens von Berlichingen faͤllt, und die neuere, deren ungluͤckliche Bluͤte im Werther geſchildert iſt. 15*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/235
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/235>, abgerufen am 23.11.2024.