hielt ich mich und verwarf die anderen als un¬ tergeschoben.
Denn schon damals hatte sich bey mir eine Grundmeynung festgesetzt, ohne daß ich zu sagen wüßte, ob sie mir eingeflößt, ob sie bey mir angeregt worden, oder ob sie aus eignem Nachdenken entsprungen sey. Es war näm¬ lich die: bey allem was uns überliefert, be¬ sonders aber schriftlich überliefert werde, kom¬ me es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier lie¬ ge das Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche, und keine Zeit, keine äußere Einwirkung noch Bedingung kön¬ ne diesem innern Urwesen etwas anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des Körpers einer wohlgebildeten Seele. So sey nun Sprache Dialect, Eigenthümlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Körper eines je¬ den geistigen Werks anzusehn; dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sey
hielt ich mich und verwarf die anderen als un¬ tergeſchoben.
Denn ſchon damals hatte ſich bey mir eine Grundmeynung feſtgeſetzt, ohne daß ich zu ſagen wuͤßte, ob ſie mir eingefloͤßt, ob ſie bey mir angeregt worden, oder ob ſie aus eignem Nachdenken entſprungen ſey. Es war naͤm¬ lich die: bey allem was uns uͤberliefert, be¬ ſonders aber ſchriftlich uͤberliefert werde, kom¬ me es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier lie¬ ge das Urſpruͤngliche, Goͤttliche, Wirkſame, Unantaſtbare, Unverwuͤſtliche, und keine Zeit, keine aͤußere Einwirkung noch Bedingung koͤn¬ ne dieſem innern Urweſen etwas anhaben, wenigſtens nicht mehr als die Krankheit des Koͤrpers einer wohlgebildeten Seele. So ſey nun Sprache Dialect, Eigenthuͤmlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Koͤrper eines je¬ den geiſtigen Werks anzuſehn; dieſer, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, ſey
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hielt ich mich und verwarf die anderen als un¬
tergeſchoben.
Denn ſchon damals hatte ſich bey mir eine
Grundmeynung feſtgeſetzt, ohne daß ich zu
ſagen wuͤßte, ob ſie mir eingefloͤßt, ob ſie bey
mir angeregt worden, oder ob ſie aus eignem
Nachdenken entſprungen ſey. Es war naͤm¬
lich die: bey allem was uns uͤberliefert, be¬
ſonders aber ſchriftlich uͤberliefert werde, kom¬
me es auf den Grund, auf das Innere, den
Sinn, die Richtung des Werks an; hier lie¬
ge das Urſpruͤngliche, Goͤttliche, Wirkſame,
Unantaſtbare, Unverwuͤſtliche, und keine Zeit,
keine aͤußere Einwirkung noch Bedingung koͤn¬
ne dieſem innern Urweſen etwas anhaben,
wenigſtens nicht mehr als die Krankheit des
Koͤrpers einer wohlgebildeten Seele. So ſey
nun Sprache Dialect, Eigenthuͤmlichkeit, Stil
und zuletzt die Schrift als Koͤrper eines je¬
den geiſtigen Werks anzuſehn; dieſer, zwar
nah genug mit dem Innern verwandt, ſey
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/160>, abgerufen am 24.11.2024.
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