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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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am Gegenwärtigen und Augenblicklichen; al¬
lein gegen das Ende drängte sich alles gar
gewaltsam über einander, wie es immer zu
gehn pflegt, wenn man sich von einem Or¬
te loslösen soll.

Noch ein Zwischenereigniß nahm mir die
letzten Tage weg. Ich befand mich nämlich
in ansehnlicher Gesellschaft auf einem Land¬
hause, von wo man die Vorderseite des Mün¬
sters und den darüber emporsteigenden Thurm
gar herrlich sehn konnte. Es ist Schade,
sagte Jemand, daß das Ganze nicht fertig
geworden und daß wir nur den einen Thurm
haben. Ich versetzte dagegen: es ist mir eben
so leid, diesen einen Thurm nicht ganz aus¬
geführt zu sehn; denn die vier Schnecken
setzen viel zu stumpf ab, es hätten darauf
noch vier leichte Thurmspitzen gesollt, so wie
eine höhere auf die Mitte, wo das plumpe
Kreuz steht.

am Gegenwaͤrtigen und Augenblicklichen; al¬
lein gegen das Ende draͤngte ſich alles gar
gewaltſam uͤber einander, wie es immer zu
gehn pflegt, wenn man ſich von einem Or¬
te losloͤſen ſoll.

Noch ein Zwiſchenereigniß nahm mir die
letzten Tage weg. Ich befand mich naͤmlich
in anſehnlicher Geſellſchaft auf einem Land¬
hauſe, von wo man die Vorderſeite des Muͤn¬
ſters und den daruͤber emporſteigenden Thurm
gar herrlich ſehn konnte. Es iſt Schade,
ſagte Jemand, daß das Ganze nicht fertig
geworden und daß wir nur den einen Thurm
haben. Ich verſetzte dagegen: es iſt mir eben
ſo leid, dieſen einen Thurm nicht ganz aus¬
gefuͤhrt zu ſehn; denn die vier Schnecken
ſetzen viel zu ſtumpf ab, es haͤtten darauf
noch vier leichte Thurmſpitzen geſollt, ſo wie
eine hoͤhere auf die Mitte, wo das plumpe
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[125/0133] am Gegenwaͤrtigen und Augenblicklichen; al¬ lein gegen das Ende draͤngte ſich alles gar gewaltſam uͤber einander, wie es immer zu gehn pflegt, wenn man ſich von einem Or¬ te losloͤſen ſoll. Noch ein Zwiſchenereigniß nahm mir die letzten Tage weg. Ich befand mich naͤmlich in anſehnlicher Geſellſchaft auf einem Land¬ hauſe, von wo man die Vorderſeite des Muͤn¬ ſters und den daruͤber emporſteigenden Thurm gar herrlich ſehn konnte. Es iſt Schade, ſagte Jemand, daß das Ganze nicht fertig geworden und daß wir nur den einen Thurm haben. Ich verſetzte dagegen: es iſt mir eben ſo leid, dieſen einen Thurm nicht ganz aus¬ gefuͤhrt zu ſehn; denn die vier Schnecken ſetzen viel zu ſtumpf ab, es haͤtten darauf noch vier leichte Thurmſpitzen geſollt, ſo wie eine hoͤhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz ſteht.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/133>, abgerufen am 05.05.2024.