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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Augen, blonde Haare, kurz ein Persönchen,
wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit
zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleich¬
sam vorsichtigen Schritt, eine angenehme nicht
ganz fließende Sprache, und ein Betragen,
das zwischen Zurückhaltung und Schüchtern¬
heit sich bewegend, einem jungen Manne gar
wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders
seine eignen, las er sehr gut vor, und schrieb
eine fließende Hand. Für seine Sinnesart
wüßte ich nur das englische Wort whimsical,
welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar
manche Seltsamkeiten in einem Begriff zu¬
sammenfaßt. Niemand war vielleicht eben
deswegen fähiger als er, die Ausschweifungen
und Auswüchse des Shakspeareschen Genies
zu empfinden und nachzubilden. Die obenge¬
dachte Uebersetzung giebt ein Zeugniß hievon.
Er behandelt seinen Autor mit großer Freyheit,
ist nichts weniger als knapp und treu, aber er
weiß sich die Rüstung oder vielmehr die Pos¬
senjacke seines Vorgängers so gut anzupassen,

Augen, blonde Haare, kurz ein Perſoͤnchen,
wie mir unter nordiſchen Juͤnglingen von Zeit
zu Zeit eins begegnet iſt; einen ſanften, gleich¬
ſam vorſichtigen Schritt, eine angenehme nicht
ganz fließende Sprache, und ein Betragen,
das zwiſchen Zuruͤckhaltung und Schuͤchtern¬
heit ſich bewegend, einem jungen Manne gar
wohl anſtand. Kleinere Gedichte, beſonders
ſeine eignen, las er ſehr gut vor, und ſchrieb
eine fließende Hand. Fuͤr ſeine Sinnesart
wuͤßte ich nur das engliſche Wort whimsical,
welches, wie das Woͤrterbuch ausweiſt, gar
manche Seltſamkeiten in einem Begriff zu¬
ſammenfaßt. Niemand war vielleicht eben
deswegen faͤhiger als er, die Ausſchweifungen
und Auswuͤchſe des Shakspeareſchen Genies
zu empfinden und nachzubilden. Die obenge¬
dachte Ueberſetzung giebt ein Zeugniß hievon.
Er behandelt ſeinen Autor mit großer Freyheit,
iſt nichts weniger als knapp und treu, aber er
weiß ſich die Ruͤſtung oder vielmehr die Poſ¬
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[116/0124] Augen, blonde Haare, kurz ein Perſoͤnchen, wie mir unter nordiſchen Juͤnglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet iſt; einen ſanften, gleich¬ ſam vorſichtigen Schritt, eine angenehme nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das zwiſchen Zuruͤckhaltung und Schuͤchtern¬ heit ſich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anſtand. Kleinere Gedichte, beſonders ſeine eignen, las er ſehr gut vor, und ſchrieb eine fließende Hand. Fuͤr ſeine Sinnesart wuͤßte ich nur das engliſche Wort whimsical, welches, wie das Woͤrterbuch ausweiſt, gar manche Seltſamkeiten in einem Begriff zu¬ ſammenfaßt. Niemand war vielleicht eben deswegen faͤhiger als er, die Ausſchweifungen und Auswuͤchſe des Shakspeareſchen Genies zu empfinden und nachzubilden. Die obenge¬ dachte Ueberſetzung giebt ein Zeugniß hievon. Er behandelt ſeinen Autor mit großer Freyheit, iſt nichts weniger als knapp und treu, aber er weiß ſich die Ruͤſtung oder vielmehr die Poſ¬ ſenjacke ſeines Vorgaͤngers ſo gut anzupaſſen,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/124>, abgerufen am 23.11.2024.