wenn es ja seyn sollte, sie so spät als mög¬ lich fahren zu lassen. Wir waren überzeugt, durch treues Aufmerken, durch fortgesetzte Be¬ schäftigung lasse sich allen Dingen etwas ab¬ gewinnen, und man müsse durch beharrlichen Eifer doch endlich auf einen Punct gelangen, wo sich mit dem Urtheil zugleich der Grund desselben aussprechen lasse. Auch verkannten wir nicht, daß die große und herrliche fran¬ zösische Welt uns manchen Vortheil und Ge¬ winn darbiete: denn Rousseau hatte uns wahrhaft zugesagt. Betrachteten wir aber sein Leben und sein Schicksal, so war er doch genöthigt, den größten Lohn für alles was er geleistet, darin zu finden, daß er uner¬ kannt und vergessen in Paris leben durfte.
Wenn wir von den Encyclopädisten reden hörten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen, so war es uns zu Muthe, als wenn man zwischen den unzähligen be¬ wegten Spuhlen und Weberstühlen einer gro¬
wenn es ja ſeyn ſollte, ſie ſo ſpaͤt als moͤg¬ lich fahren zu laſſen. Wir waren uͤberzeugt, durch treues Aufmerken, durch fortgeſetzte Be¬ ſchaͤftigung laſſe ſich allen Dingen etwas ab¬ gewinnen, und man muͤſſe durch beharrlichen Eifer doch endlich auf einen Punct gelangen, wo ſich mit dem Urtheil zugleich der Grund deſſelben ausſprechen laſſe. Auch verkannten wir nicht, daß die große und herrliche fran¬ zoͤſiſche Welt uns manchen Vortheil und Ge¬ winn darbiete: denn Rouſſeau hatte uns wahrhaft zugeſagt. Betrachteten wir aber ſein Leben und ſein Schickſal, ſo war er doch genoͤthigt, den groͤßten Lohn fuͤr alles was er geleiſtet, darin zu finden, daß er uner¬ kannt und vergeſſen in Paris leben durfte.
Wenn wir von den Encyclopaͤdiſten reden hoͤrten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufſchlugen, ſo war es uns zu Muthe, als wenn man zwiſchen den unzaͤhligen be¬ wegten Spuhlen und Weberſtuͤhlen einer gro¬
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wenn es ja ſeyn ſollte, ſie ſo ſpaͤt als moͤg¬
lich fahren zu laſſen. Wir waren uͤberzeugt,
durch treues Aufmerken, durch fortgeſetzte Be¬
ſchaͤftigung laſſe ſich allen Dingen etwas ab¬
gewinnen, und man muͤſſe durch beharrlichen
Eifer doch endlich auf einen Punct gelangen,
wo ſich mit dem Urtheil zugleich der Grund
deſſelben ausſprechen laſſe. Auch verkannten
wir nicht, daß die große und herrliche fran¬
zoͤſiſche Welt uns manchen Vortheil und Ge¬
winn darbiete: denn Rouſſeau hatte uns
wahrhaft zugeſagt. Betrachteten wir aber
ſein Leben und ſein Schickſal, ſo war er doch
genoͤthigt, den groͤßten Lohn fuͤr alles was
er geleiſtet, darin zu finden, daß er uner¬
kannt und vergeſſen in Paris leben durfte.
Wenn wir von den Encyclopaͤdiſten reden
hoͤrten, oder einen Band ihres ungeheuren
Werks aufſchlugen, ſo war es uns zu Muthe,
als wenn man zwiſchen den unzaͤhligen be¬
wegten Spuhlen und Weberſtuͤhlen einer gro¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/104>, abgerufen am 23.11.2024.
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