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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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mich schien in eben diesem Maße abzuneh¬
men; doch blieben wir immer gute Gesellen,
wir trugen einander vor wie nach und erzeig¬
ten uns wechselseitig die freundlichsten Dienste.

Entfernen wir uns jedoch nunmehr von
der freundschaftlichen Krankenstube und von
den allgemeinen Betrachtungen, welche eher
auf Krankkeit als auf Gesundheit des Geistes
deuten; begeben wir uns in die freye Luft,
auf den hohen und breiten Altan des Mün¬
sters, als wäre die Zeit noch da, wo wir
junge Gesellen uns öfters dorthin auf den
Abend beschieden, um mit gefüllten Römern
die scheidende Sonne zu begrüßen. Hier ver¬
lor sich alles Gespräch in die Betrachtung der
Gegend, alsdann wurde die Schärfe der Au¬
gen geprüft, und jeder bestrebte sich die ent¬
ferntesten Gegenstände gewahr zu werden, ja
deutlich zu unterscheiden. Gute Fernröhre
wurden zu Hülfe genommen, und ein Freund
nach dem andern bezeichnete genau die Stel¬

mich ſchien in eben dieſem Maße abzuneh¬
men; doch blieben wir immer gute Geſellen,
wir trugen einander vor wie nach und erzeig¬
ten uns wechſelſeitig die freundlichſten Dienſte.

Entfernen wir uns jedoch nunmehr von
der freundſchaftlichen Krankenſtube und von
den allgemeinen Betrachtungen, welche eher
auf Krankkeit als auf Geſundheit des Geiſtes
deuten; begeben wir uns in die freye Luft,
auf den hohen und breiten Altan des Muͤn¬
ſters, als waͤre die Zeit noch da, wo wir
junge Geſellen uns oͤfters dorthin auf den
Abend beſchieden, um mit gefuͤllten Roͤmern
die ſcheidende Sonne zu begruͤßen. Hier ver¬
lor ſich alles Geſpraͤch in die Betrachtung der
Gegend, alsdann wurde die Schaͤrfe der Au¬
gen gepruͤft, und jeder beſtrebte ſich die ent¬
fernteſten Gegenſtaͤnde gewahr zu werden, ja
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[490/0498] mich ſchien in eben dieſem Maße abzuneh¬ men; doch blieben wir immer gute Geſellen, wir trugen einander vor wie nach und erzeig¬ ten uns wechſelſeitig die freundlichſten Dienſte. Entfernen wir uns jedoch nunmehr von der freundſchaftlichen Krankenſtube und von den allgemeinen Betrachtungen, welche eher auf Krankkeit als auf Geſundheit des Geiſtes deuten; begeben wir uns in die freye Luft, auf den hohen und breiten Altan des Muͤn¬ ſters, als waͤre die Zeit noch da, wo wir junge Geſellen uns oͤfters dorthin auf den Abend beſchieden, um mit gefuͤllten Roͤmern die ſcheidende Sonne zu begruͤßen. Hier ver¬ lor ſich alles Geſpraͤch in die Betrachtung der Gegend, alsdann wurde die Schaͤrfe der Au¬ gen gepruͤft, und jeder beſtrebte ſich die ent¬ fernteſten Gegenſtaͤnde gewahr zu werden, ja deutlich zu unterſcheiden. Gute Fernroͤhre wurden zu Huͤlfe genommen, und ein Freund nach dem andern bezeichnete genau die Stel¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/498>, abgerufen am 10.06.2024.