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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Kenntnisse, seine tiefen Einsichten täglich mehr
schätzen lernte. Die Einwirkung dieses gut¬
müthigen Polterers war groß und bedeutend.
Er hatte fünf Jahre mehr als ich, welches
in jüngeren Tagen schon einen großen Unter¬
schied macht; und da ich ihn für das aner¬
kannte was er war, da ich dasjenige zu schä¬
tzen suchte was er schon geleistet hatte, so
mußte er eine große Superiorität über mich
gewinnen. Aber behaglich war der Zustand
nicht: denn ältere Personen, mit denen ich
bisher umgegangen, hatten mich mit Scho¬
nung zu bilden gesucht, vielleicht auch durch
Nachgiebigkeit verzogen; von Herdern aber
konnte man niemals eine Billigung erwarten,
man mochte sich anstellen wie man wollte.
Indem nun also auf der einen Seite meine
große Neigung und Verehrung für ihn, und
auf der andern das Misbehagen, das er in
mir erweckte, beständig mit einander im Streit
lagen; so entstand ein Zwiespalt in mir, der
erste in seiner Art, den ich in meinem Leben

Kenntniſſe, ſeine tiefen Einſichten taͤglich mehr
ſchaͤtzen lernte. Die Einwirkung dieſes gut¬
muͤthigen Polterers war groß und bedeutend.
Er hatte fuͤnf Jahre mehr als ich, welches
in juͤngeren Tagen ſchon einen großen Unter¬
ſchied macht; und da ich ihn fuͤr das aner¬
kannte was er war, da ich dasjenige zu ſchaͤ¬
tzen ſuchte was er ſchon geleiſtet hatte, ſo
mußte er eine große Superioritaͤt uͤber mich
gewinnen. Aber behaglich war der Zuſtand
nicht: denn aͤltere Perſonen, mit denen ich
bisher umgegangen, hatten mich mit Scho¬
nung zu bilden geſucht, vielleicht auch durch
Nachgiebigkeit verzogen; von Herdern aber
konnte man niemals eine Billigung erwarten,
man mochte ſich anſtellen wie man wollte.
Indem nun alſo auf der einen Seite meine
große Neigung und Verehrung fuͤr ihn, und
auf der andern das Misbehagen, das er in
mir erweckte, beſtaͤndig mit einander im Streit
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[466/0474] Kenntniſſe, ſeine tiefen Einſichten taͤglich mehr ſchaͤtzen lernte. Die Einwirkung dieſes gut¬ muͤthigen Polterers war groß und bedeutend. Er hatte fuͤnf Jahre mehr als ich, welches in juͤngeren Tagen ſchon einen großen Unter¬ ſchied macht; und da ich ihn fuͤr das aner¬ kannte was er war, da ich dasjenige zu ſchaͤ¬ tzen ſuchte was er ſchon geleiſtet hatte, ſo mußte er eine große Superioritaͤt uͤber mich gewinnen. Aber behaglich war der Zuſtand nicht: denn aͤltere Perſonen, mit denen ich bisher umgegangen, hatten mich mit Scho¬ nung zu bilden geſucht, vielleicht auch durch Nachgiebigkeit verzogen; von Herdern aber konnte man niemals eine Billigung erwarten, man mochte ſich anſtellen wie man wollte. Indem nun alſo auf der einen Seite meine große Neigung und Verehrung fuͤr ihn, und auf der andern das Misbehagen, das er in mir erweckte, beſtaͤndig mit einander im Streit lagen; ſo entſtand ein Zwieſpalt in mir, der erſte in ſeiner Art, den ich in meinem Leben

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/474>, abgerufen am 22.11.2024.