zwar alle Menschen ihrer Natur nach, einige mehr, einige weniger, einige in langsamern, andere in schnelleren Pulsen; wenige können ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen, viele zum Schein. Was Herdern betrifft, so schrieb sich das Uebergewicht seines widerspre¬ chenden, bittern, bissigen Humors gewiß von seinem Uebel und den daraus entspringenden Leiden her. Dieser Fall kommt im Leben öf¬ ters vor, und man beachtet nicht genug die moralische Wirkung krankhafter Zustände, und beurtheilt daher manche Charactere sehr un¬ gerecht, weil man alle Menschen für gesund nimmt und von ihnen verlangt, daß sie sich auch in solcher Maße betragen sollen.
Die ganze Zeit dieser Cur besuchte ich Herdern Morgens und Abends; ich blieb auch wohl ganze Tage bey ihm und gewöhn¬ te mich in kurzem um so mehr an sein Schel¬ ten und Tadeln, als ich seine schönen und großen Eigenschaften, seine ausgebreiteten
II. 30
zwar alle Menſchen ihrer Natur nach, einige mehr, einige weniger, einige in langſamern, andere in ſchnelleren Pulſen; wenige koͤnnen ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen, viele zum Schein. Was Herdern betrifft, ſo ſchrieb ſich das Uebergewicht ſeines widerſpre¬ chenden, bittern, biſſigen Humors gewiß von ſeinem Uebel und den daraus entſpringenden Leiden her. Dieſer Fall kommt im Leben oͤf¬ ters vor, und man beachtet nicht genug die moraliſche Wirkung krankhafter Zuſtaͤnde, und beurtheilt daher manche Charactere ſehr un¬ gerecht, weil man alle Menſchen fuͤr geſund nimmt und von ihnen verlangt, daß ſie ſich auch in ſolcher Maße betragen ſollen.
Die ganze Zeit dieſer Cur beſuchte ich Herdern Morgens und Abends; ich blieb auch wohl ganze Tage bey ihm und gewoͤhn¬ te mich in kurzem um ſo mehr an ſein Schel¬ ten und Tadeln, als ich ſeine ſchoͤnen und großen Eigenſchaften, ſeine ausgebreiteten
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zwar alle Menſchen ihrer Natur nach, einige
mehr, einige weniger, einige in langſamern,
andere in ſchnelleren Pulſen; wenige koͤnnen
ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen,
viele zum Schein. Was Herdern betrifft, ſo
ſchrieb ſich das Uebergewicht ſeines widerſpre¬
chenden, bittern, biſſigen Humors gewiß von
ſeinem Uebel und den daraus entſpringenden
Leiden her. Dieſer Fall kommt im Leben oͤf¬
ters vor, und man beachtet nicht genug die
moraliſche Wirkung krankhafter Zuſtaͤnde, und
beurtheilt daher manche Charactere ſehr un¬
gerecht, weil man alle Menſchen fuͤr geſund
nimmt und von ihnen verlangt, daß ſie ſich
auch in ſolcher Maße betragen ſollen.
Die ganze Zeit dieſer Cur beſuchte ich
Herdern Morgens und Abends; ich blieb
auch wohl ganze Tage bey ihm und gewoͤhn¬
te mich in kurzem um ſo mehr an ſein Schel¬
ten und Tadeln, als ich ſeine ſchoͤnen und
großen Eigenſchaften, ſeine ausgebreiteten
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/473>, abgerufen am 23.11.2024.
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