Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

zwar alle Menschen ihrer Natur nach, einige
mehr, einige weniger, einige in langsamern,
andere in schnelleren Pulsen; wenige können
ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen,
viele zum Schein. Was Herdern betrifft, so
schrieb sich das Uebergewicht seines widerspre¬
chenden, bittern, bissigen Humors gewiß von
seinem Uebel und den daraus entspringenden
Leiden her. Dieser Fall kommt im Leben öf¬
ters vor, und man beachtet nicht genug die
moralische Wirkung krankhafter Zustände, und
beurtheilt daher manche Charactere sehr un¬
gerecht, weil man alle Menschen für gesund
nimmt und von ihnen verlangt, daß sie sich
auch in solcher Maße betragen sollen.

Die ganze Zeit dieser Cur besuchte ich
Herdern Morgens und Abends; ich blieb
auch wohl ganze Tage bey ihm und gewöhn¬
te mich in kurzem um so mehr an sein Schel¬
ten und Tadeln, als ich seine schönen und
großen Eigenschaften, seine ausgebreiteten

II. 30

zwar alle Menſchen ihrer Natur nach, einige
mehr, einige weniger, einige in langſamern,
andere in ſchnelleren Pulſen; wenige koͤnnen
ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen,
viele zum Schein. Was Herdern betrifft, ſo
ſchrieb ſich das Uebergewicht ſeines widerſpre¬
chenden, bittern, biſſigen Humors gewiß von
ſeinem Uebel und den daraus entſpringenden
Leiden her. Dieſer Fall kommt im Leben oͤf¬
ters vor, und man beachtet nicht genug die
moraliſche Wirkung krankhafter Zuſtaͤnde, und
beurtheilt daher manche Charactere ſehr un¬
gerecht, weil man alle Menſchen fuͤr geſund
nimmt und von ihnen verlangt, daß ſie ſich
auch in ſolcher Maße betragen ſollen.

Die ganze Zeit dieſer Cur beſuchte ich
Herdern Morgens und Abends; ich blieb
auch wohl ganze Tage bey ihm und gewoͤhn¬
te mich in kurzem um ſo mehr an ſein Schel¬
ten und Tadeln, als ich ſeine ſchoͤnen und
großen Eigenſchaften, ſeine ausgebreiteten

II. 30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0473" n="465"/>
zwar alle Men&#x017F;chen ihrer Natur nach, einige<lb/>
mehr, einige weniger, einige in lang&#x017F;amern,<lb/>
andere in &#x017F;chnelleren Pul&#x017F;en; wenige ko&#x0364;nnen<lb/>
ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen,<lb/>
viele zum Schein. Was Herdern betrifft, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chrieb &#x017F;ich das Uebergewicht &#x017F;eines wider&#x017F;pre¬<lb/>
chenden, bittern, bi&#x017F;&#x017F;igen Humors gewiß von<lb/>
&#x017F;einem Uebel und den daraus ent&#x017F;pringenden<lb/>
Leiden her. Die&#x017F;er Fall kommt im Leben o&#x0364;<lb/>
ters vor, und man beachtet nicht genug die<lb/>
morali&#x017F;che Wirkung krankhafter Zu&#x017F;ta&#x0364;nde, und<lb/>
beurtheilt daher manche Charactere &#x017F;ehr un¬<lb/>
gerecht, weil man alle Men&#x017F;chen fu&#x0364;r ge&#x017F;und<lb/>
nimmt und von ihnen verlangt, daß &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
auch in &#x017F;olcher Maße betragen &#x017F;ollen.</p><lb/>
        <p>Die ganze Zeit die&#x017F;er Cur be&#x017F;uchte ich<lb/>
Herdern Morgens und Abends; ich blieb<lb/>
auch wohl ganze Tage bey ihm und gewo&#x0364;hn¬<lb/>
te mich in kurzem um &#x017F;o mehr an &#x017F;ein Schel¬<lb/>
ten und Tadeln, als ich &#x017F;eine &#x017F;cho&#x0364;nen und<lb/>
großen Eigen&#x017F;chaften, &#x017F;eine ausgebreiteten<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">II. 30<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[465/0473] zwar alle Menſchen ihrer Natur nach, einige mehr, einige weniger, einige in langſamern, andere in ſchnelleren Pulſen; wenige koͤnnen ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen, viele zum Schein. Was Herdern betrifft, ſo ſchrieb ſich das Uebergewicht ſeines widerſpre¬ chenden, bittern, biſſigen Humors gewiß von ſeinem Uebel und den daraus entſpringenden Leiden her. Dieſer Fall kommt im Leben oͤf¬ ters vor, und man beachtet nicht genug die moraliſche Wirkung krankhafter Zuſtaͤnde, und beurtheilt daher manche Charactere ſehr un¬ gerecht, weil man alle Menſchen fuͤr geſund nimmt und von ihnen verlangt, daß ſie ſich auch in ſolcher Maße betragen ſollen. Die ganze Zeit dieſer Cur beſuchte ich Herdern Morgens und Abends; ich blieb auch wohl ganze Tage bey ihm und gewoͤhn¬ te mich in kurzem um ſo mehr an ſein Schel¬ ten und Tadeln, als ich ſeine ſchoͤnen und großen Eigenſchaften, ſeine ausgebreiteten II. 30

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/473
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/473>, abgerufen am 23.11.2024.