Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Die deutschen Dichter, da sie nicht mehr
als Gildeglieder für Einen Mann standen,
genossen in der bürgerlichen Welt nicht der
mindesten Vortheile. Sie hatten weder Halt,
Stand noch Ansehn, als in sofern sonst ein
Verhältniß ihnen günstig war, und es kam
daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent
zu Ehren oder Schanden geboren seyn sollte.
Ein armer Erdensohn, im Gefühl von Geist
und Fähigkeiten, mußte sich kümmerlich ins
Leben hineinschleppen und die Gabe, die
er allenfalls von den Musen erhalten hatte,
von dem augenblicklichen Bedürfniß gedrängt,
vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die er¬
ste und ächteste aller Dichtarten, ward ver¬
ächtlich auf einen Grad, daß die Nation
noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen

Die deutſchen Dichter, da ſie nicht mehr
als Gildeglieder fuͤr Einen Mann ſtanden,
genoſſen in der buͤrgerlichen Welt nicht der
mindeſten Vortheile. Sie hatten weder Halt,
Stand noch Anſehn, als in ſofern ſonſt ein
Verhaͤltniß ihnen guͤnſtig war, und es kam
daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent
zu Ehren oder Schanden geboren ſeyn ſollte.
Ein armer Erdenſohn, im Gefuͤhl von Geiſt
und Faͤhigkeiten, mußte ſich kuͤmmerlich ins
Leben hineinſchleppen und die Gabe, die
er allenfalls von den Muſen erhalten hatte,
von dem augenblicklichen Beduͤrfniß gedraͤngt,
vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die er¬
ſte und aͤchteſte aller Dichtarten, ward ver¬
aͤchtlich auf einen Grad, daß die Nation
noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0455" n="[447]"/>
        <p>Die deut&#x017F;chen Dichter, da &#x017F;ie nicht mehr<lb/>
als Gildeglieder fu&#x0364;r Einen Mann &#x017F;tanden,<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en in der bu&#x0364;rgerlichen Welt nicht der<lb/>
minde&#x017F;ten Vortheile. Sie hatten weder Halt,<lb/>
Stand noch An&#x017F;ehn, als in &#x017F;ofern &#x017F;on&#x017F;t ein<lb/>
Verha&#x0364;ltniß ihnen gu&#x0364;n&#x017F;tig war, und es kam<lb/>
daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent<lb/>
zu Ehren oder Schanden geboren &#x017F;eyn &#x017F;ollte.<lb/>
Ein armer Erden&#x017F;ohn, im Gefu&#x0364;hl von Gei&#x017F;t<lb/>
und Fa&#x0364;higkeiten, mußte &#x017F;ich ku&#x0364;mmerlich ins<lb/>
Leben hinein&#x017F;chleppen und die Gabe, die<lb/>
er allenfalls von den Mu&#x017F;en erhalten hatte,<lb/>
von dem augenblicklichen Bedu&#x0364;rfniß gedra&#x0364;ngt,<lb/>
vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die er¬<lb/>
&#x017F;te und a&#x0364;chte&#x017F;te aller Dichtarten, ward ver¬<lb/>
a&#x0364;chtlich auf einen Grad, daß die Nation<lb/>
noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[447]/0455] Die deutſchen Dichter, da ſie nicht mehr als Gildeglieder fuͤr Einen Mann ſtanden, genoſſen in der buͤrgerlichen Welt nicht der mindeſten Vortheile. Sie hatten weder Halt, Stand noch Anſehn, als in ſofern ſonſt ein Verhaͤltniß ihnen guͤnſtig war, und es kam daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent zu Ehren oder Schanden geboren ſeyn ſollte. Ein armer Erdenſohn, im Gefuͤhl von Geiſt und Faͤhigkeiten, mußte ſich kuͤmmerlich ins Leben hineinſchleppen und die Gabe, die er allenfalls von den Muſen erhalten hatte, von dem augenblicklichen Beduͤrfniß gedraͤngt, vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die er¬ ſte und aͤchteſte aller Dichtarten, ward ver¬ aͤchtlich auf einen Grad, daß die Nation noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/455
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. [447]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/455>, abgerufen am 10.06.2024.