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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Fall nur noch mehr bestärkte. Ich kann und
mag nicht wiederholen, was er für eine Phi¬
lippische Rede wider sich selbst hielt. Zuletzt
wendete er sich zu mir und sagte: Ich rufe
Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch
jener Krämerinn, an der Ecke, die weder
jung noch hübsch ist? Jedesmal grüße ich
sie, wenn wir vorbeygehen, und rede manch¬
mal ein paar freundliche Worte mit ihr; und
doch sind schon dreyßig Jahre vorbey, daß
sie mir günstig war. Nun aber, nicht vier
Wochen, schwör' ich, sind's, da erzeigte sich
dieses Mädchen gegen mich gefälliger als bil¬
lig, und nun will ich sie nicht kennen und
beleidige sie für ihre Artigkeit! Sage ich es
nicht immer, Undank ist das größte Laster,
und kein Mensch wäre undankbar, wenn er
nicht vergeßlich wäre!

Wir traten ins Wirthshaus, und nur die
zechende, schwärmende Menge in den Vorsä¬
len hemmte die Invectiven, die er gegen sich

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Fall nur noch mehr beſtaͤrkte. Ich kann und
mag nicht wiederholen, was er fuͤr eine Phi¬
lippiſche Rede wider ſich ſelbſt hielt. Zuletzt
wendete er ſich zu mir und ſagte: Ich rufe
Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch
jener Kraͤmerinn, an der Ecke, die weder
jung noch huͤbſch iſt? Jedesmal gruͤße ich
ſie, wenn wir vorbeygehen, und rede manch¬
mal ein paar freundliche Worte mit ihr; und
doch ſind ſchon dreyßig Jahre vorbey, daß
ſie mir guͤnſtig war. Nun aber, nicht vier
Wochen, ſchwoͤr' ich, ſind's, da erzeigte ſich
dieſes Maͤdchen gegen mich gefaͤlliger als bil¬
lig, und nun will ich ſie nicht kennen und
beleidige ſie fuͤr ihre Artigkeit! Sage ich es
nicht immer, Undank iſt das groͤßte Laſter,
und kein Menſch waͤre undankbar, wenn er
nicht vergeßlich waͤre!

Wir traten ins Wirthshaus, und nur die
zechende, ſchwaͤrmende Menge in den Vorſaͤ¬
len hemmte die Invectiven, die er gegen ſich

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[403/0411] Fall nur noch mehr beſtaͤrkte. Ich kann und mag nicht wiederholen, was er fuͤr eine Phi¬ lippiſche Rede wider ſich ſelbſt hielt. Zuletzt wendete er ſich zu mir und ſagte: Ich rufe Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch jener Kraͤmerinn, an der Ecke, die weder jung noch huͤbſch iſt? Jedesmal gruͤße ich ſie, wenn wir vorbeygehen, und rede manch¬ mal ein paar freundliche Worte mit ihr; und doch ſind ſchon dreyßig Jahre vorbey, daß ſie mir guͤnſtig war. Nun aber, nicht vier Wochen, ſchwoͤr' ich, ſind's, da erzeigte ſich dieſes Maͤdchen gegen mich gefaͤlliger als bil¬ lig, und nun will ich ſie nicht kennen und beleidige ſie fuͤr ihre Artigkeit! Sage ich es nicht immer, Undank iſt das groͤßte Laſter, und kein Menſch waͤre undankbar, wenn er nicht vergeßlich waͤre! Wir traten ins Wirthshaus, und nur die zechende, ſchwaͤrmende Menge in den Vorſaͤ¬ len hemmte die Invectiven, die er gegen ſich 26 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/411>, abgerufen am 26.11.2024.