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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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eignen Schlußfolge, alle Tugend komme von
dem guten Gedächtniß her, alle Laster hinge¬
gen aus der Vergessenheit. Diese Lehre wu߬
te er mit vielem Scharfsinn durchzusetzen;
wie sich denn alles behaupten läßt, wenn man
sich erlaubt, die Worte ganz unbestimmt, bald
in weiterem, bald engerm, in einem näher
oder ferner verwandten Sinne zu gebrauchen
und anzuwenden.

Die ersten Male unterhielt es wohl ihn
zu hören, ja seine Suade setzte in Verwun¬
derung. Man glaubte vor einem rednerischen
Sophisten zu stehen, der, zu Scherz und
Uebung, den seltsamsten Dingen einen Schein
zu verleihen weiß. Leider stumpfte sich die¬
ser erste Eindruck nur allzubald ab: denn am
Ende jedes Gesprächs kam der Mann wieder
auf dasselbe Thema, ich mochte mich auch
anstellen wie ich wollte. Er war bey älteren
Begebenheiten nicht festzuhalten, ob sie ihn
gleich selbst interessirten, ob er sie schon mit

eignen Schlußfolge, alle Tugend komme von
dem guten Gedaͤchtniß her, alle Laſter hinge¬
gen aus der Vergeſſenheit. Dieſe Lehre wu߬
te er mit vielem Scharfſinn durchzuſetzen;
wie ſich denn alles behaupten laͤßt, wenn man
ſich erlaubt, die Worte ganz unbeſtimmt, bald
in weiterem, bald engerm, in einem naͤher
oder ferner verwandten Sinne zu gebrauchen
und anzuwenden.

Die erſten Male unterhielt es wohl ihn
zu hoͤren, ja ſeine Suade ſetzte in Verwun¬
derung. Man glaubte vor einem redneriſchen
Sophiſten zu ſtehen, der, zu Scherz und
Uebung, den ſeltſamſten Dingen einen Schein
zu verleihen weiß. Leider ſtumpfte ſich die¬
ſer erſte Eindruck nur allzubald ab: denn am
Ende jedes Geſpraͤchs kam der Mann wieder
auf daſſelbe Thema, ich mochte mich auch
anſtellen wie ich wollte. Er war bey aͤlteren
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[399/0407] eignen Schlußfolge, alle Tugend komme von dem guten Gedaͤchtniß her, alle Laſter hinge¬ gen aus der Vergeſſenheit. Dieſe Lehre wu߬ te er mit vielem Scharfſinn durchzuſetzen; wie ſich denn alles behaupten laͤßt, wenn man ſich erlaubt, die Worte ganz unbeſtimmt, bald in weiterem, bald engerm, in einem naͤher oder ferner verwandten Sinne zu gebrauchen und anzuwenden. Die erſten Male unterhielt es wohl ihn zu hoͤren, ja ſeine Suade ſetzte in Verwun¬ derung. Man glaubte vor einem redneriſchen Sophiſten zu ſtehen, der, zu Scherz und Uebung, den ſeltſamſten Dingen einen Schein zu verleihen weiß. Leider ſtumpfte ſich die¬ ſer erſte Eindruck nur allzubald ab: denn am Ende jedes Geſpraͤchs kam der Mann wieder auf daſſelbe Thema, ich mochte mich auch anſtellen wie ich wollte. Er war bey aͤlteren Begebenheiten nicht feſtzuhalten, ob ſie ihn gleich ſelbſt intereſſirten, ob er ſie ſchon mit

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/407>, abgerufen am 27.11.2024.