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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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gehn ließ, ohne viel über sie, noch über die
Wirkung zu denken, die sie auf mich aus¬
übten, so merkte ich erst nach und nach, daß
seine Erzählungen und Urtheile mich mehr
beunruhigten und verwirrten als unterrichte¬
ten und aufklärten. Ich wußte niemals wor¬
an ich mit ihm war, obgleich das Räthsel
sich leicht hätte entziffern lassen. Er gehörte
zu den Vielen, denen das Leben keine Resul¬
tate giebt, und die sich daher im Einzelnen,
vor wie nach, abmühen. Unglücklicher Weise
hatte er dabey eine entschiedne Lust, ja Lei¬
denschaft zum Nachdenken, ohne zum Denken
geschickt zu seyn, und in solchen Menschen
setzt sich leicht ein gewisser Begriff fest, den
man als eine Gemüthskrankheit ansehen kann.
Auf eine solche fixe Ansicht kam auch er im¬
mer wieder zurück, und ward dadurch auf die
Dauer höchst lästig. Er pflegte sich nämlich
bitter über die Abnahme seines Gedächtnisses
zu beklagen, besonders was die nächsten Er¬
eignisse betraf, und behauptete, nach einer

gehn ließ, ohne viel uͤber ſie, noch uͤber die
Wirkung zu denken, die ſie auf mich aus¬
uͤbten, ſo merkte ich erſt nach und nach, daß
ſeine Erzaͤhlungen und Urtheile mich mehr
beunruhigten und verwirrten als unterrichte¬
ten und aufklaͤrten. Ich wußte niemals wor¬
an ich mit ihm war, obgleich das Raͤthſel
ſich leicht haͤtte entziffern laſſen. Er gehoͤrte
zu den Vielen, denen das Leben keine Reſul¬
tate giebt, und die ſich daher im Einzelnen,
vor wie nach, abmuͤhen. Ungluͤcklicher Weiſe
hatte er dabey eine entſchiedne Luſt, ja Lei¬
denſchaft zum Nachdenken, ohne zum Denken
geſchickt zu ſeyn, und in ſolchen Menſchen
ſetzt ſich leicht ein gewiſſer Begriff feſt, den
man als eine Gemuͤthskrankheit anſehen kann.
Auf eine ſolche fixe Anſicht kam auch er im¬
mer wieder zuruͤck, und ward dadurch auf die
Dauer hoͤchſt laͤſtig. Er pflegte ſich naͤmlich
bitter uͤber die Abnahme ſeines Gedaͤchtniſſes
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[398/0406] gehn ließ, ohne viel uͤber ſie, noch uͤber die Wirkung zu denken, die ſie auf mich aus¬ uͤbten, ſo merkte ich erſt nach und nach, daß ſeine Erzaͤhlungen und Urtheile mich mehr beunruhigten und verwirrten als unterrichte¬ ten und aufklaͤrten. Ich wußte niemals wor¬ an ich mit ihm war, obgleich das Raͤthſel ſich leicht haͤtte entziffern laſſen. Er gehoͤrte zu den Vielen, denen das Leben keine Reſul¬ tate giebt, und die ſich daher im Einzelnen, vor wie nach, abmuͤhen. Ungluͤcklicher Weiſe hatte er dabey eine entſchiedne Luſt, ja Lei¬ denſchaft zum Nachdenken, ohne zum Denken geſchickt zu ſeyn, und in ſolchen Menſchen ſetzt ſich leicht ein gewiſſer Begriff feſt, den man als eine Gemuͤthskrankheit anſehen kann. Auf eine ſolche fixe Anſicht kam auch er im¬ mer wieder zuruͤck, und ward dadurch auf die Dauer hoͤchſt laͤſtig. Er pflegte ſich naͤmlich bitter uͤber die Abnahme ſeines Gedaͤchtniſſes zu beklagen, beſonders was die naͤchſten Er¬ eigniſſe betraf, und behauptete, nach einer

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/406>, abgerufen am 27.11.2024.