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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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blick ertragen lehrte, indem sie meine Wi߬
begierde befriedigte. Und so besuchte ich auch
das Clinicum des ältern Doctor Ehrmann,
so wie die Lectionen der Entbindungskunst
seines Sohns, in der doppelten Absicht, alle
Zustände kennen zu lernen und mich von al¬
ler Apprehension gegen widerwärtige Dinge
zu befreyen. Ich habe es auch wirklich darin
so weit gebracht, daß nichts dergleichen mich
jemals aus der Fassung setzen konnte. Aber
nicht allein gegen diese sinnlichen Eindrücke,
sondern auch gegen die Anfechtungen der Ein¬
bildungskraft suchte ich mich zu stählen. Die
ahndungs- und schauervollen Eindrücke der
Finsterniß, der Kirchhöfe, einsamer Oerter,
nächtlicher Kirchen und Capellen und was
hiemit verwandt seyn mag, wußte ich mir
ebenfalls gleichgültig zu machen; und auch
darin brachte ich es so weit, daß mir Tag
und Nacht und jedes Local völlig gleich war,
ja daß, als in später Zeit mich die Lust an¬
kam, wieder einmal in solcher Umgebung die

blick ertragen lehrte, indem ſie meine Wi߬
begierde befriedigte. Und ſo beſuchte ich auch
das Clinicum des aͤltern Doctor Ehrmann,
ſo wie die Lectionen der Entbindungskunſt
ſeines Sohns, in der doppelten Abſicht, alle
Zuſtaͤnde kennen zu lernen und mich von al¬
ler Apprehenſion gegen widerwaͤrtige Dinge
zu befreyen. Ich habe es auch wirklich darin
ſo weit gebracht, daß nichts dergleichen mich
jemals aus der Faſſung ſetzen konnte. Aber
nicht allein gegen dieſe ſinnlichen Eindruͤcke,
ſondern auch gegen die Anfechtungen der Ein¬
bildungskraft ſuchte ich mich zu ſtaͤhlen. Die
ahndungs- und ſchauervollen Eindruͤcke der
Finſterniß, der Kirchhoͤfe, einſamer Oerter,
naͤchtlicher Kirchen und Capellen und was
hiemit verwandt ſeyn mag, wußte ich mir
ebenfalls gleichguͤltig zu machen; und auch
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[390/0398] blick ertragen lehrte, indem ſie meine Wi߬ begierde befriedigte. Und ſo beſuchte ich auch das Clinicum des aͤltern Doctor Ehrmann, ſo wie die Lectionen der Entbindungskunſt ſeines Sohns, in der doppelten Abſicht, alle Zuſtaͤnde kennen zu lernen und mich von al¬ ler Apprehenſion gegen widerwaͤrtige Dinge zu befreyen. Ich habe es auch wirklich darin ſo weit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals aus der Faſſung ſetzen konnte. Aber nicht allein gegen dieſe ſinnlichen Eindruͤcke, ſondern auch gegen die Anfechtungen der Ein¬ bildungskraft ſuchte ich mich zu ſtaͤhlen. Die ahndungs- und ſchauervollen Eindruͤcke der Finſterniß, der Kirchhoͤfe, einſamer Oerter, naͤchtlicher Kirchen und Capellen und was hiemit verwandt ſeyn mag, wußte ich mir ebenfalls gleichguͤltig zu machen; und auch darin brachte ich es ſo weit, daß mir Tag und Nacht und jedes Local voͤllig gleich war, ja daß, als in ſpaͤter Zeit mich die Luſt an¬ kam, wieder einmal in ſolcher Umgebung die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/398>, abgerufen am 27.11.2024.