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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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stunde lang, bis ich es wagte wieder heraus
in die freye Luft zu treten, wo man auf ei¬
ner Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte
haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu
können, stehend das unendliche Land vor sich
sieht, indessen die nächsten Umgebungen und
Zieraten die Kirche und alles, worauf und
worüber man steht, verbergen. Es ist völlig
als wenn man sich auf einer Mongolfiere in
die Luft erhoben sähe. Dergleichen Angst und
Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck
mir ganz gleichgültig ward, und ich habe
nachher bey Bergreisen und geologischen Stu¬
dien, bey großen Bauten, wo ich mit den
Zimmerleuten um die Wette über die freylie¬
genden Balken und über die Gesimse des Ge¬
bäudes herlief, ja in Rom, wo man eben
dergleichen Wagstücke ausüben muß, um be¬
deutende Kunstwerke näher zu sehen, von je¬
nen Vorübungen großen Vortheil gezogen.
Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt
werth, weil sie mich den widerwärtigsten An¬

ſtunde lang, bis ich es wagte wieder heraus
in die freye Luft zu treten, wo man auf ei¬
ner Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte
haben wird, ohne ſich ſonderlich anhalten zu
koͤnnen, ſtehend das unendliche Land vor ſich
ſieht, indeſſen die naͤchſten Umgebungen und
Zieraten die Kirche und alles, worauf und
woruͤber man ſteht, verbergen. Es iſt voͤllig
als wenn man ſich auf einer Mongolfiere in
die Luft erhoben ſaͤhe. Dergleichen Angſt und
Qual wiederholte ich ſo oft, bis der Eindruck
mir ganz gleichguͤltig ward, und ich habe
nachher bey Bergreiſen und geologiſchen Stu¬
dien, bey großen Bauten, wo ich mit den
Zimmerleuten um die Wette uͤber die freylie¬
genden Balken und uͤber die Geſimſe des Ge¬
baͤudes herlief, ja in Rom, wo man eben
dergleichen Wagſtuͤcke ausuͤben muß, um be¬
deutende Kunſtwerke naͤher zu ſehen, von je¬
nen Voruͤbungen großen Vortheil gezogen.
Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt
werth, weil ſie mich den widerwaͤrtigſten An¬

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[389/0397] ſtunde lang, bis ich es wagte wieder heraus in die freye Luft zu treten, wo man auf ei¬ ner Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird, ohne ſich ſonderlich anhalten zu koͤnnen, ſtehend das unendliche Land vor ſich ſieht, indeſſen die naͤchſten Umgebungen und Zieraten die Kirche und alles, worauf und woruͤber man ſteht, verbergen. Es iſt voͤllig als wenn man ſich auf einer Mongolfiere in die Luft erhoben ſaͤhe. Dergleichen Angſt und Qual wiederholte ich ſo oft, bis der Eindruck mir ganz gleichguͤltig ward, und ich habe nachher bey Bergreiſen und geologiſchen Stu¬ dien, bey großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette uͤber die freylie¬ genden Balken und uͤber die Geſimſe des Ge¬ baͤudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagſtuͤcke ausuͤben muß, um be¬ deutende Kunſtwerke naͤher zu ſehen, von je¬ nen Voruͤbungen großen Vortheil gezogen. Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt werth, weil ſie mich den widerwaͤrtigſten An¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/397>, abgerufen am 27.11.2024.