wiederum die Moral begründen sollte. Die Verschiedenheit der Charactere und Denkwei¬ sen zeigte sich hier in unendlichen Abstufungen, besonders da noch ein Hauptunterschied mit einwirkte, indem die Frage entstand, wie viel Antheil die Vernunft, wie viel die Empfin¬ dung an solchen Ueberzeugungen haben könne und dürfe. Die lebhaftesten und geistreich¬ sten Männer erwiesen sich in diesem Falle als Schmetterlinge, welche ganz uneingedenk ih¬ res Raupenstandes die Puppenhülle wegwer¬ fen, in der sie zu ihrer organischen Vollkom¬ menheit gediehen sind. Andere, treuer und bescheidner gesinnt, konnte man den Blumen vergleichen, die ob sie sich gleich zur schön¬ sten Blüthe entfalten, sich doch von der Wur¬ zel, von dem Mutterstamme nicht losreißen, ja vielmehr durch diesen Familienzusammen¬ hang die gewünschte Frucht erst zur Reife bringen. Von dieser letztern Art war Langer; denn obgleich Gelehrter und vorzüglicher Bü¬ cherkenner, so mochte er doch der Bibel vor
wiederum die Moral begruͤnden ſollte. Die Verſchiedenheit der Charactere und Denkwei¬ ſen zeigte ſich hier in unendlichen Abſtufungen, beſonders da noch ein Hauptunterſchied mit einwirkte, indem die Frage entſtand, wie viel Antheil die Vernunft, wie viel die Empfin¬ dung an ſolchen Ueberzeugungen haben koͤnne und duͤrfe. Die lebhafteſten und geiſtreich¬ ſten Maͤnner erwieſen ſich in dieſem Falle als Schmetterlinge, welche ganz uneingedenk ih¬ res Raupenſtandes die Puppenhuͤlle wegwer¬ fen, in der ſie zu ihrer organiſchen Vollkom¬ menheit gediehen ſind. Andere, treuer und beſcheidner geſinnt, konnte man den Blumen vergleichen, die ob ſie ſich gleich zur ſchoͤn¬ ſten Bluͤthe entfalten, ſich doch von der Wur¬ zel, von dem Mutterſtamme nicht losreißen, ja vielmehr durch dieſen Familienzuſammen¬ hang die gewuͤnſchte Frucht erſt zur Reife bringen. Von dieſer letztern Art war Langer; denn obgleich Gelehrter und vorzuͤglicher Buͤ¬ cherkenner, ſo mochte er doch der Bibel vor
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wiederum die Moral begruͤnden ſollte. Die
Verſchiedenheit der Charactere und Denkwei¬
ſen zeigte ſich hier in unendlichen Abſtufungen,
beſonders da noch ein Hauptunterſchied mit
einwirkte, indem die Frage entſtand, wie viel
Antheil die Vernunft, wie viel die Empfin¬
dung an ſolchen Ueberzeugungen haben koͤnne
und duͤrfe. Die lebhafteſten und geiſtreich¬
ſten Maͤnner erwieſen ſich in dieſem Falle als
Schmetterlinge, welche ganz uneingedenk ih¬
res Raupenſtandes die Puppenhuͤlle wegwer¬
fen, in der ſie zu ihrer organiſchen Vollkom¬
menheit gediehen ſind. Andere, treuer und
beſcheidner geſinnt, konnte man den Blumen
vergleichen, die ob ſie ſich gleich zur ſchoͤn¬
ſten Bluͤthe entfalten, ſich doch von der Wur¬
zel, von dem Mutterſtamme nicht losreißen,
ja vielmehr durch dieſen Familienzuſammen¬
hang die gewuͤnſchte Frucht erſt zur Reife
bringen. Von dieſer letztern Art war Langer;
denn obgleich Gelehrter und vorzuͤglicher Buͤ¬
cherkenner, ſo mochte er doch der Bibel vor
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/300>, abgerufen am 22.11.2024.
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