Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

thun berufen war, ohne zu dem Unrechten
sonderliche Freyheit zu behalten.

Zu den ahndungsvollen Dingen, die
den Knaben und auch wohl den Jüngling
bedrängten, gehörte besonders der Zustand
der Judenstadt, eigentlich die Judengasse
genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als
einer einzigen Straße besteht, welche in frü¬
hen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben
wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt
worden seyn. Die Enge, der Schmutz, das
Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen
Sprache, alles zusammen machte den unan¬
genehmsten Eindruck, wenn man auch nur
am Thore vorbeygehend hineinsah. Es dau¬
erte lange bis ich allein mich hineinwagte, und
ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück,
wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vie¬
ler etwas zu schachern unermüdet fordernder
oder anbietender Menschen entgangen war.
Dabey schwebten die alten Mährchen von

thun berufen war, ohne zu dem Unrechten
ſonderliche Freyheit zu behalten.

Zu den ahndungsvollen Dingen, die
den Knaben und auch wohl den Juͤngling
bedraͤngten, gehoͤrte beſonders der Zuſtand
der Judenſtadt, eigentlich die Judengaſſe
genannt, weil ſie kaum aus etwas mehr als
einer einzigen Straße beſteht, welche in fruͤ¬
hen Zeiten zwiſchen Stadtmauer und Graben
wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt
worden ſeyn. Die Enge, der Schmutz, das
Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen
Sprache, alles zuſammen machte den unan¬
genehmſten Eindruck, wenn man auch nur
am Thore vorbeygehend hineinſah. Es dau¬
erte lange bis ich allein mich hineinwagte, und
ich kehrte nicht leicht wieder dahin zuruͤck,
wenn ich einmal den Zudringlichkeiten ſo vie¬
ler etwas zu ſchachern unermuͤdet fordernder
oder anbietender Menſchen entgangen war.
Dabey ſchwebten die alten Maͤhrchen von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0366" n="350"/>
thun berufen war, ohne zu dem Unrechten<lb/>
&#x017F;onderliche Freyheit zu behalten.</p><lb/>
        <p>Zu den ahndungsvollen Dingen, die<lb/>
den Knaben und auch wohl den Ju&#x0364;ngling<lb/>
bedra&#x0364;ngten, geho&#x0364;rte be&#x017F;onders der Zu&#x017F;tand<lb/>
der Juden&#x017F;tadt, eigentlich die Judenga&#x017F;&#x017F;e<lb/>
genannt, weil &#x017F;ie kaum aus etwas mehr als<lb/>
einer einzigen Straße be&#x017F;teht, welche in fru&#x0364;¬<lb/>
hen Zeiten zwi&#x017F;chen Stadtmauer und Graben<lb/>
wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt<lb/>
worden &#x017F;eyn. Die Enge, der Schmutz, das<lb/>
Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen<lb/>
Sprache, alles zu&#x017F;ammen machte den unan¬<lb/>
genehm&#x017F;ten Eindruck, wenn man auch nur<lb/>
am Thore vorbeygehend hinein&#x017F;ah. Es dau¬<lb/>
erte lange bis ich allein mich hineinwagte, und<lb/>
ich kehrte nicht leicht wieder dahin zuru&#x0364;ck,<lb/>
wenn ich einmal den Zudringlichkeiten &#x017F;o vie¬<lb/>
ler etwas zu &#x017F;chachern unermu&#x0364;det fordernder<lb/>
oder anbietender Men&#x017F;chen entgangen war.<lb/>
Dabey &#x017F;chwebten die alten Ma&#x0364;hrchen von<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[350/0366] thun berufen war, ohne zu dem Unrechten ſonderliche Freyheit zu behalten. Zu den ahndungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Juͤngling bedraͤngten, gehoͤrte beſonders der Zuſtand der Judenſtadt, eigentlich die Judengaſſe genannt, weil ſie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße beſteht, welche in fruͤ¬ hen Zeiten zwiſchen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden ſeyn. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen Sprache, alles zuſammen machte den unan¬ genehmſten Eindruck, wenn man auch nur am Thore vorbeygehend hineinſah. Es dau¬ erte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zuruͤck, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten ſo vie¬ ler etwas zu ſchachern unermuͤdet fordernder oder anbietender Menſchen entgangen war. Dabey ſchwebten die alten Maͤhrchen von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/366
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/366>, abgerufen am 02.09.2024.