Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Bibliothek bereit stand, und in welchem die
Auslegung schwerer und bedenklicher Stellen
auf eine verständige und kluge Weise unter¬
nommen war. Die Uebersetzung hatte durch
die großen Bemühungen deutscher Gottesge¬
lehrten Vorzüge vor dem Original erhalten.
Die verschiedenen Meynungen waren ange¬
führt, und zuletzt eine Art von Vermittelung
versucht, wobey die Würde des Buchs, der
Grund der Religion und der Menschenver¬
stand einigermaßen neben einander bestehen
konnten. So oft ich nun gegen Ende der
Stunde mit hergebrachten Fragen und Zwei¬
feln auftrat, so oft deutete er auf das Re¬
positorium; ich holte mir den Band, er
ließ mich lesen, blätterte in seinem Lucian,
und wenn ich über das Buch meine Anmer¬
kungen machte, war sein gewöhnliches Lachen
alles wodurch er meinen Scharfsinn erwie¬
derte. In den langen Sommertagen ließ
er mich sitzen so lange ich lesen konnte, manch¬
mal allein; nur dauerte es eine Weile, bis

Bibliothek bereit ſtand, und in welchem die
Auslegung ſchwerer und bedenklicher Stellen
auf eine verſtaͤndige und kluge Weiſe unter¬
nommen war. Die Ueberſetzung hatte durch
die großen Bemuͤhungen deutſcher Gottesge¬
lehrten Vorzuͤge vor dem Original erhalten.
Die verſchiedenen Meynungen waren ange¬
fuͤhrt, und zuletzt eine Art von Vermittelung
verſucht, wobey die Wuͤrde des Buchs, der
Grund der Religion und der Menſchenver¬
ſtand einigermaßen neben einander beſtehen
konnten. So oft ich nun gegen Ende der
Stunde mit hergebrachten Fragen und Zwei¬
feln auftrat, ſo oft deutete er auf das Re¬
poſitorium; ich holte mir den Band, er
ließ mich leſen, blaͤtterte in ſeinem Lucian,
und wenn ich uͤber das Buch meine Anmer¬
kungen machte, war ſein gewoͤhnliches Lachen
alles wodurch er meinen Scharfſinn erwie¬
derte. In den langen Sommertagen ließ
er mich ſitzen ſo lange ich leſen konnte, manch¬
mal allein; nur dauerte es eine Weile, bis

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0315" n="299"/>
Bibliothek bereit &#x017F;tand, und in welchem die<lb/>
Auslegung &#x017F;chwerer und bedenklicher Stellen<lb/>
auf eine ver&#x017F;ta&#x0364;ndige und kluge Wei&#x017F;e unter¬<lb/>
nommen war. Die Ueber&#x017F;etzung hatte durch<lb/>
die großen Bemu&#x0364;hungen deut&#x017F;cher Gottesge¬<lb/>
lehrten Vorzu&#x0364;ge vor dem Original erhalten.<lb/>
Die ver&#x017F;chiedenen Meynungen waren ange¬<lb/>
fu&#x0364;hrt, und zuletzt eine Art von Vermittelung<lb/>
ver&#x017F;ucht, wobey die Wu&#x0364;rde des Buchs, der<lb/>
Grund der Religion und der Men&#x017F;chenver¬<lb/>
&#x017F;tand einigermaßen neben einander be&#x017F;tehen<lb/>
konnten. So oft ich nun gegen Ende der<lb/>
Stunde mit hergebrachten Fragen und Zwei¬<lb/>
feln auftrat, &#x017F;o oft deutete er auf das Re¬<lb/>
po&#x017F;itorium; ich holte mir den Band, er<lb/>
ließ mich le&#x017F;en, bla&#x0364;tterte in &#x017F;einem Lucian,<lb/>
und wenn ich u&#x0364;ber das Buch meine Anmer¬<lb/>
kungen machte, war &#x017F;ein gewo&#x0364;hnliches Lachen<lb/>
alles wodurch er meinen Scharf&#x017F;inn erwie¬<lb/>
derte. In den langen Sommertagen ließ<lb/>
er mich &#x017F;itzen &#x017F;o lange ich le&#x017F;en konnte, manch¬<lb/>
mal allein; nur dauerte es eine Weile, bis<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[299/0315] Bibliothek bereit ſtand, und in welchem die Auslegung ſchwerer und bedenklicher Stellen auf eine verſtaͤndige und kluge Weiſe unter¬ nommen war. Die Ueberſetzung hatte durch die großen Bemuͤhungen deutſcher Gottesge¬ lehrten Vorzuͤge vor dem Original erhalten. Die verſchiedenen Meynungen waren ange¬ fuͤhrt, und zuletzt eine Art von Vermittelung verſucht, wobey die Wuͤrde des Buchs, der Grund der Religion und der Menſchenver¬ ſtand einigermaßen neben einander beſtehen konnten. So oft ich nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen und Zwei¬ feln auftrat, ſo oft deutete er auf das Re¬ poſitorium; ich holte mir den Band, er ließ mich leſen, blaͤtterte in ſeinem Lucian, und wenn ich uͤber das Buch meine Anmer¬ kungen machte, war ſein gewoͤhnliches Lachen alles wodurch er meinen Scharfſinn erwie¬ derte. In den langen Sommertagen ließ er mich ſitzen ſo lange ich leſen konnte, manch¬ mal allein; nur dauerte es eine Weile, bis

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/315
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/315>, abgerufen am 22.11.2024.