Jahre, nach dem Erdbeben von Lissabon, die Güte Gottes einigermaßen verdächtig geworden war, so fing ich nun, wegen Fried¬ richs des zweyten, die Gerechtigkeit des Publicums zu bezweifeln an. Mein Ge¬ müth war von Natur zur Ehrerbietung ge¬ neigt, und es gehörte eine große Erschütte¬ rung dazu, um meinen Glauben an irgend ein Ehrwürdiges wanken zu machen. Leider hatte man uns die guten Sitten, ein anstän¬ diges Betragen, nicht um ihrer selbst, sondern um der Leute willen anempfohlen; was die Leute sagen würden, hieß es immer, und ich dachte, die Leute müßten auch rechte Leute seyn, würden auch Alles und Jedes zu schätzen wissen. Nun aber erfuhr ich das Gegentheil. Die größten und augenfälligsten Verdienste wurden geschmäht und angefein¬ det, die höchsten Thaten wo nicht geläugnet doch wenigstens entstellt und verkleinert; und ein so schnödes Unrecht geschah dem einzigen, offenbar über alle seine Zeitgenossen erhabenen
Jahre, nach dem Erdbeben von Liſſabon, die Guͤte Gottes einigermaßen verdaͤchtig geworden war, ſo fing ich nun, wegen Fried¬ richs des zweyten, die Gerechtigkeit des Publicums zu bezweifeln an. Mein Ge¬ muͤth war von Natur zur Ehrerbietung ge¬ neigt, und es gehoͤrte eine große Erſchuͤtte¬ rung dazu, um meinen Glauben an irgend ein Ehrwuͤrdiges wanken zu machen. Leider hatte man uns die guten Sitten, ein anſtaͤn¬ diges Betragen, nicht um ihrer ſelbſt, ſondern um der Leute willen anempfohlen; was die Leute ſagen wuͤrden, hieß es immer, und ich dachte, die Leute muͤßten auch rechte Leute ſeyn, wuͤrden auch Alles und Jedes zu ſchaͤtzen wiſſen. Nun aber erfuhr ich das Gegentheil. Die groͤßten und augenfaͤlligſten Verdienſte wurden geſchmaͤht und angefein¬ det, die hoͤchſten Thaten wo nicht gelaͤugnet doch wenigſtens entſtellt und verkleinert; und ein ſo ſchnoͤdes Unrecht geſchah dem einzigen, offenbar uͤber alle ſeine Zeitgenoſſen erhabenen
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[96/0112]
Jahre, nach dem Erdbeben von Liſſabon,
die Guͤte Gottes einigermaßen verdaͤchtig
geworden war, ſo fing ich nun, wegen Fried¬
richs des zweyten, die Gerechtigkeit des
Publicums zu bezweifeln an. Mein Ge¬
muͤth war von Natur zur Ehrerbietung ge¬
neigt, und es gehoͤrte eine große Erſchuͤtte¬
rung dazu, um meinen Glauben an irgend
ein Ehrwuͤrdiges wanken zu machen. Leider
hatte man uns die guten Sitten, ein anſtaͤn¬
diges Betragen, nicht um ihrer ſelbſt, ſondern
um der Leute willen anempfohlen; was die
Leute ſagen wuͤrden, hieß es immer, und
ich dachte, die Leute muͤßten auch rechte
Leute ſeyn, wuͤrden auch Alles und Jedes
zu ſchaͤtzen wiſſen. Nun aber erfuhr ich das
Gegentheil. Die groͤßten und augenfaͤlligſten
Verdienſte wurden geſchmaͤht und angefein¬
det, die hoͤchſten Thaten wo nicht gelaͤugnet
doch wenigſtens entſtellt und verkleinert; und
ein ſo ſchnoͤdes Unrecht geſchah dem einzigen,
offenbar uͤber alle ſeine Zeitgenoſſen erhabenen
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/112>, abgerufen am 24.11.2024.
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