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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Denn der Materie Stoff ist gänzlich beraubet der
Farbe,
Weder den Dingen gleich noch ungleich ihnen zu
nennen.
Sagst du, der menschliche Geist vermöge nicht Kör-
per zu fassen
Solcherley Art, so irrest du sehr und täuschest dich
gänzlich.
Nimm dir den Blindgeborenen doch: die göttliche
Sonne
Hat er nimmer gesehn, doch kennet er, durch das
Gefühl bloß,
Dinge, die nie im Leben mit Farbe verbunden ihm
waren.
Eben so läßt sich verstehn, wie die Seele Begriffe
von Körpern
Machen sich könne, die nicht mit Farbe von außen
getüncht sind.
Selbst die Dinge, die wir bey Nacht und im Dunkel
betasten,
Unterscheiden sich uns, obgleich wir die Farbe nicht
fühlen.

Was die Erfahrung bezeugt, laß jetzt durch Grün-
de mich darthun.
Jegliche Farbe verwandelt sich leicht in jegliche
Farbe;
Aber das dürfen doch nie die Urelemente der
Dinge.

Denn der Materie Stoff iſt gaͤnzlich beraubet der
Farbe,
Weder den Dingen gleich noch ungleich ihnen zu
nennen.
Sagſt du, der menſchliche Geiſt vermoͤge nicht Koͤr-
per zu faſſen
Solcherley Art, ſo irreſt du ſehr und taͤuſcheſt dich
gaͤnzlich.
Nimm dir den Blindgeborenen doch: die goͤttliche
Sonne
Hat er nimmer geſehn, doch kennet er, durch das
Gefuͤhl bloß,
Dinge, die nie im Leben mit Farbe verbunden ihm
waren.
Eben ſo laͤßt ſich verſtehn, wie die Seele Begriffe
von Koͤrpern
Machen ſich koͤnne, die nicht mit Farbe von außen
getuͤncht ſind.
Selbſt die Dinge, die wir bey Nacht und im Dunkel
betaſten,
Unterſcheiden ſich uns, obgleich wir die Farbe nicht
fuͤhlen.

Was die Erfahrung bezeugt, laß jetzt durch Gruͤn-
de mich darthun.
Jegliche Farbe verwandelt ſich leicht in jegliche
Farbe;
Aber das duͤrfen doch nie die Urelemente der
Dinge.
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[61/0095] Denn der Materie Stoff iſt gaͤnzlich beraubet der Farbe, Weder den Dingen gleich noch ungleich ihnen zu nennen. Sagſt du, der menſchliche Geiſt vermoͤge nicht Koͤr- per zu faſſen Solcherley Art, ſo irreſt du ſehr und taͤuſcheſt dich gaͤnzlich. Nimm dir den Blindgeborenen doch: die goͤttliche Sonne Hat er nimmer geſehn, doch kennet er, durch das Gefuͤhl bloß, Dinge, die nie im Leben mit Farbe verbunden ihm waren. Eben ſo laͤßt ſich verſtehn, wie die Seele Begriffe von Koͤrpern Machen ſich koͤnne, die nicht mit Farbe von außen getuͤncht ſind. Selbſt die Dinge, die wir bey Nacht und im Dunkel betaſten, Unterſcheiden ſich uns, obgleich wir die Farbe nicht fuͤhlen. Was die Erfahrung bezeugt, laß jetzt durch Gruͤn- de mich darthun. Jegliche Farbe verwandelt ſich leicht in jegliche Farbe; Aber das duͤrfen doch nie die Urelemente der Dinge.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/95>, abgerufen am 29.03.2024.