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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Licht entwickelte, denen man zu diesem Behuf eine
verschiedene Brechbarkeit zuschrieb. Nun war aber
bey gleicher Brechung diese Brechbarkeit sehr verschie-
den, und nun faßte man ein Wort auf, den Aus-
druck Zerstreuung, und setzte hinter diese Bre-
chung und Brechbarkeit noch eine von ihr unabhän-
gige Zerstreuung und Zerstreubarkeit, welche im Hin-
terhalt auf Gelegenheit warten mußte, sich zu manife-
stiren; und ein solches Flickwerk wurde in der wissen-
schaftlichen Welt, so viel mir bekannt geworden, ohne
Widerspruch aufgenommen.

Das Wort Zerstreuung kommt schon in den
ältesten Zeiten, wenn vom Licht die Rede ist, vor.
Man kann es als einen Trivial-Ausdruck ansehen,
wenn man dasjenige, was man als Kraft betrachten
sollte, materiell nimmt, und das was eine gehinderte,
gemäßigte Kraft ist, als eine zerstückelte, zermalmte,
zersplitterte ansieht.

Wenn ein blendendes Sonnenlicht gegen eine weiße
Wand fällt; so wirkt es von dort nach allen entge-
gengesetzten Enden und Ecken zurück, mit mehr oder
weniger geschwächter Kraft. Führt man aber mit ei-
ner gewaltsamen Feuerspritze eine Wassermasse gegen
diese Wand; so wirkt diese Masse gleichfalls zurück,
aber zerstiebend und in Millionen Theile sich zerstreuend.
Aus einer solchen Vorstellungsart ist der Ausdruck Zer-
streuung des Lichts entstanden.

Licht entwickelte, denen man zu dieſem Behuf eine
verſchiedene Brechbarkeit zuſchrieb. Nun war aber
bey gleicher Brechung dieſe Brechbarkeit ſehr verſchie-
den, und nun faßte man ein Wort auf, den Aus-
druck Zerſtreuung, und ſetzte hinter dieſe Bre-
chung und Brechbarkeit noch eine von ihr unabhaͤn-
gige Zerſtreuung und Zerſtreubarkeit, welche im Hin-
terhalt auf Gelegenheit warten mußte, ſich zu manife-
ſtiren; und ein ſolches Flickwerk wurde in der wiſſen-
ſchaftlichen Welt, ſo viel mir bekannt geworden, ohne
Widerſpruch aufgenommen.

Das Wort Zerſtreuung kommt ſchon in den
aͤlteſten Zeiten, wenn vom Licht die Rede iſt, vor.
Man kann es als einen Trivial-Ausdruck anſehen,
wenn man dasjenige, was man als Kraft betrachten
ſollte, materiell nimmt, und das was eine gehinderte,
gemaͤßigte Kraft iſt, als eine zerſtuͤckelte, zermalmte,
zerſplitterte anſieht.

Wenn ein blendendes Sonnenlicht gegen eine weiße
Wand faͤllt; ſo wirkt es von dort nach allen entge-
gengeſetzten Enden und Ecken zuruͤck, mit mehr oder
weniger geſchwaͤchter Kraft. Fuͤhrt man aber mit ei-
ner gewaltſamen Feuerſpritze eine Waſſermaſſe gegen
dieſe Wand; ſo wirkt dieſe Maſſe gleichfalls zuruͤck,
aber zerſtiebend und in Millionen Theile ſich zerſtreuend.
Aus einer ſolchen Vorſtellungsart iſt der Ausdruck Zer-
ſtreuung des Lichts entſtanden.

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[585/0619] Licht entwickelte, denen man zu dieſem Behuf eine verſchiedene Brechbarkeit zuſchrieb. Nun war aber bey gleicher Brechung dieſe Brechbarkeit ſehr verſchie- den, und nun faßte man ein Wort auf, den Aus- druck Zerſtreuung, und ſetzte hinter dieſe Bre- chung und Brechbarkeit noch eine von ihr unabhaͤn- gige Zerſtreuung und Zerſtreubarkeit, welche im Hin- terhalt auf Gelegenheit warten mußte, ſich zu manife- ſtiren; und ein ſolches Flickwerk wurde in der wiſſen- ſchaftlichen Welt, ſo viel mir bekannt geworden, ohne Widerſpruch aufgenommen. Das Wort Zerſtreuung kommt ſchon in den aͤlteſten Zeiten, wenn vom Licht die Rede iſt, vor. Man kann es als einen Trivial-Ausdruck anſehen, wenn man dasjenige, was man als Kraft betrachten ſollte, materiell nimmt, und das was eine gehinderte, gemaͤßigte Kraft iſt, als eine zerſtuͤckelte, zermalmte, zerſplitterte anſieht. Wenn ein blendendes Sonnenlicht gegen eine weiße Wand faͤllt; ſo wirkt es von dort nach allen entge- gengeſetzten Enden und Ecken zuruͤck, mit mehr oder weniger geſchwaͤchter Kraft. Fuͤhrt man aber mit ei- ner gewaltſamen Feuerſpritze eine Waſſermaſſe gegen dieſe Wand; ſo wirkt dieſe Maſſe gleichfalls zuruͤck, aber zerſtiebend und in Millionen Theile ſich zerſtreuend. Aus einer ſolchen Vorſtellungsart iſt der Ausdruck Zer- ſtreuung des Lichts entſtanden.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/619>, abgerufen am 22.11.2024.