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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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so fällt es uns nicht leicht ein, die Revision eines sol-
chen Processes zu verlangen, ob es gleich Fälle genug
gegeben hat, wo das Andenken eines schmälich Hinge-
richteten durch Recht und Urtheil rehabilitirt worden.
Nun aber Versuche, von einer Seite so bedeutend,
von der andern so leicht und bequem anzustellen, sollen,
weil sie vor hundert Jahren, in England, vor einer
zwar ansehnlichen aber weder theoretisirend noch experi-
mentirend völlig tactfesten Gesellschaft angestellt worden,
nunmehr als ein für allemal abgethan, abgemacht und
fertig erklärt, und die Wiederholung derselben für
unnütz, thöricht, ja anmaßlich ausgeschrieen werden!
Ist hierbey nur der mindeste Sinn, was Erfahrungs-
wissenschaft sey, worauf sie beruhe, wie sie wachsen
könne und müsse, wie sie ihr Falsches nach und nach
von selbst wegwerfe, wie durch neue Entdeckungen die
alten sich ergänzen und wie durch das Ergänzen die
älteren Vorstellungsarten, selbst ohne Polemik, in sich
zerfallen?

Auf die lächerlichste und unerträglichste Weise hat
man von eben diesen Desagulierschen Experimenten später-
hin einsichtige Naturforscher weggeschreckt, gerade wie die
Kirche von Glaubensartikeln die naseweisen Ketzer zu
entfernen sucht. Betrachtet man dagegen, wie in der
neuern Zeit Physiker und Chemiker die Lehre von den
Luftarten, der Electricität, des Galvanism, mit unsäg-
lichem Fleiß, mit Aufwand und mancherley Aufopferun-
gen bearbeitet; so muß man sich schämen, im chroma-
tischen Fach beynahe allein mit dem alten Inventarium

ſo faͤllt es uns nicht leicht ein, die Reviſion eines ſol-
chen Proceſſes zu verlangen, ob es gleich Faͤlle genug
gegeben hat, wo das Andenken eines ſchmaͤlich Hinge-
richteten durch Recht und Urtheil rehabilitirt worden.
Nun aber Verſuche, von einer Seite ſo bedeutend,
von der andern ſo leicht und bequem anzuſtellen, ſollen,
weil ſie vor hundert Jahren, in England, vor einer
zwar anſehnlichen aber weder theoretiſirend noch experi-
mentirend voͤllig tactfeſten Geſellſchaft angeſtellt worden,
nunmehr als ein fuͤr allemal abgethan, abgemacht und
fertig erklaͤrt, und die Wiederholung derſelben fuͤr
unnuͤtz, thoͤricht, ja anmaßlich ausgeſchrieen werden!
Iſt hierbey nur der mindeſte Sinn, was Erfahrungs-
wiſſenſchaft ſey, worauf ſie beruhe, wie ſie wachſen
koͤnne und muͤſſe, wie ſie ihr Falſches nach und nach
von ſelbſt wegwerfe, wie durch neue Entdeckungen die
alten ſich ergaͤnzen und wie durch das Ergaͤnzen die
aͤlteren Vorſtellungsarten, ſelbſt ohne Polemik, in ſich
zerfallen?

Auf die laͤcherlichſte und unertraͤglichſte Weiſe hat
man von eben dieſen Desagulierſchen Experimenten ſpaͤter-
hin einſichtige Naturforſcher weggeſchreckt, gerade wie die
Kirche von Glaubensartikeln die naſeweiſen Ketzer zu
entfernen ſucht. Betrachtet man dagegen, wie in der
neuern Zeit Phyſiker und Chemiker die Lehre von den
Luftarten, der Electricitaͤt, des Galvanism, mit unſaͤg-
lichem Fleiß, mit Aufwand und mancherley Aufopferun-
gen bearbeitet; ſo muß man ſich ſchaͤmen, im chroma-
tiſchen Fach beynahe allein mit dem alten Inventarium

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[462/0496] ſo faͤllt es uns nicht leicht ein, die Reviſion eines ſol- chen Proceſſes zu verlangen, ob es gleich Faͤlle genug gegeben hat, wo das Andenken eines ſchmaͤlich Hinge- richteten durch Recht und Urtheil rehabilitirt worden. Nun aber Verſuche, von einer Seite ſo bedeutend, von der andern ſo leicht und bequem anzuſtellen, ſollen, weil ſie vor hundert Jahren, in England, vor einer zwar anſehnlichen aber weder theoretiſirend noch experi- mentirend voͤllig tactfeſten Geſellſchaft angeſtellt worden, nunmehr als ein fuͤr allemal abgethan, abgemacht und fertig erklaͤrt, und die Wiederholung derſelben fuͤr unnuͤtz, thoͤricht, ja anmaßlich ausgeſchrieen werden! Iſt hierbey nur der mindeſte Sinn, was Erfahrungs- wiſſenſchaft ſey, worauf ſie beruhe, wie ſie wachſen koͤnne und muͤſſe, wie ſie ihr Falſches nach und nach von ſelbſt wegwerfe, wie durch neue Entdeckungen die alten ſich ergaͤnzen und wie durch das Ergaͤnzen die aͤlteren Vorſtellungsarten, ſelbſt ohne Polemik, in ſich zerfallen? Auf die laͤcherlichſte und unertraͤglichſte Weiſe hat man von eben dieſen Desagulierſchen Experimenten ſpaͤter- hin einſichtige Naturforſcher weggeſchreckt, gerade wie die Kirche von Glaubensartikeln die naſeweiſen Ketzer zu entfernen ſucht. Betrachtet man dagegen, wie in der neuern Zeit Phyſiker und Chemiker die Lehre von den Luftarten, der Electricitaͤt, des Galvanism, mit unſaͤg- lichem Fleiß, mit Aufwand und mancherley Aufopferun- gen bearbeitet; ſo muß man ſich ſchaͤmen, im chroma- tiſchen Fach beynahe allein mit dem alten Inventarium

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/496>, abgerufen am 26.06.2024.