Massen sind etwas allen Sinneswahrnehmungen gemei- nes, oder wenn nicht allen, doch dem Gesichte und Gefühl. Darum täuschen diese beyden Sinne sich zwar hierüber, nicht aber über das jedem eigenthümliche, z. E. das Gesicht nicht über die Farbe, das Gehör nicht über den Schall. Jene Physiologen aber werfen das Eigenthümliche mit dem Gemeinschaftlichen zusam- men, wie Democritus. Vom Weißen nehmlich und Schwarzen behauptet er, dieses sey rauh und jenes glatt. Auch die Geschmäcke bringt er auf Gestalten zu- rück. Wiewohl es des Gesichtes mehr als jedes andern Sinnes Eigenschaft ist, das Gemeinsame zu erkennen. Sollte es nun mehr des Geschmackes Sache seyn; so müßte, da das kleinste in jeglicher Art zu unterscheiden, dem schärfsten Sinne angehört, der Geschmack zumeist das übrige gemeinsame empfinden und über die Gestalt der vollkommenste Richter seyn. Ferner alles Empfind- bare hat Gegensätze, z. E. in der Farbe, ist dem Schwarzen das Weiße, im Geschmack, das Süße dem Bittern entgegen; Gestalt aber scheint kein Gegensatz von Gestalt zu seyn. Denn welchem Eck steht der Zirkel entgegen? Ferner da die Gestalten unendlich sind, müß- ten auch die Geschmäcke unendlich seyn: denn warum sollte man von den schmeckbaren Dingen einige empfin- den, andre aber nicht? --
Sichtbar ist, wessen allein das Gesicht ist. Sicht- bar ist aber die Farbe und etwas das sich zwar be- schreiben läßt, aber keinen eigenen Nahmen hat. Was
Maſſen ſind etwas allen Sinneswahrnehmungen gemei- nes, oder wenn nicht allen, doch dem Geſichte und Gefuͤhl. Darum taͤuſchen dieſe beyden Sinne ſich zwar hieruͤber, nicht aber uͤber das jedem eigenthuͤmliche, z. E. das Geſicht nicht uͤber die Farbe, das Gehoͤr nicht uͤber den Schall. Jene Phyſiologen aber werfen das Eigenthuͤmliche mit dem Gemeinſchaftlichen zuſam- men, wie Democritus. Vom Weißen nehmlich und Schwarzen behauptet er, dieſes ſey rauh und jenes glatt. Auch die Geſchmaͤcke bringt er auf Geſtalten zu- ruͤck. Wiewohl es des Geſichtes mehr als jedes andern Sinnes Eigenſchaft iſt, das Gemeinſame zu erkennen. Sollte es nun mehr des Geſchmackes Sache ſeyn; ſo muͤßte, da das kleinſte in jeglicher Art zu unterſcheiden, dem ſchaͤrfſten Sinne angehoͤrt, der Geſchmack zumeiſt das uͤbrige gemeinſame empfinden und uͤber die Geſtalt der vollkommenſte Richter ſeyn. Ferner alles Empfind- bare hat Gegenſaͤtze, z. E. in der Farbe, iſt dem Schwarzen das Weiße, im Geſchmack, das Suͤße dem Bittern entgegen; Geſtalt aber ſcheint kein Gegenſatz von Geſtalt zu ſeyn. Denn welchem Eck ſteht der Zirkel entgegen? Ferner da die Geſtalten unendlich ſind, muͤß- ten auch die Geſchmaͤcke unendlich ſeyn: denn warum ſollte man von den ſchmeckbaren Dingen einige empfin- den, andre aber nicht? —
Sichtbar iſt, weſſen allein das Geſicht iſt. Sicht- bar iſt aber die Farbe und etwas das ſich zwar be- ſchreiben laͤßt, aber keinen eigenen Nahmen hat. Was
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0047"n="13"/>
Maſſen ſind etwas allen Sinneswahrnehmungen gemei-<lb/>
nes, oder wenn nicht allen, doch dem Geſichte und<lb/>
Gefuͤhl. Darum taͤuſchen dieſe beyden Sinne ſich zwar<lb/>
hieruͤber, nicht aber uͤber das jedem eigenthuͤmliche,<lb/>
z. E. das Geſicht nicht uͤber die Farbe, das Gehoͤr<lb/>
nicht uͤber den Schall. Jene Phyſiologen aber werfen<lb/>
das Eigenthuͤmliche mit dem Gemeinſchaftlichen zuſam-<lb/>
men, wie Democritus. Vom Weißen nehmlich und<lb/>
Schwarzen behauptet er, dieſes ſey rauh und jenes<lb/>
glatt. Auch die Geſchmaͤcke bringt er auf Geſtalten zu-<lb/>
ruͤck. Wiewohl es des Geſichtes mehr als jedes andern<lb/>
Sinnes Eigenſchaft iſt, das Gemeinſame zu erkennen.<lb/>
Sollte es nun mehr des Geſchmackes Sache ſeyn; ſo<lb/>
muͤßte, da das kleinſte in jeglicher Art zu unterſcheiden,<lb/>
dem ſchaͤrfſten Sinne angehoͤrt, der Geſchmack zumeiſt<lb/>
das uͤbrige gemeinſame empfinden und uͤber die Geſtalt<lb/>
der vollkommenſte Richter ſeyn. Ferner alles Empfind-<lb/>
bare hat Gegenſaͤtze, z. E. in der Farbe, iſt dem<lb/>
Schwarzen das Weiße, im Geſchmack, das Suͤße dem<lb/>
Bittern entgegen; Geſtalt aber ſcheint kein Gegenſatz<lb/>
von Geſtalt zu ſeyn. Denn welchem Eck ſteht der Zirkel<lb/>
entgegen? Ferner da die Geſtalten unendlich ſind, muͤß-<lb/>
ten auch die Geſchmaͤcke unendlich ſeyn: denn warum<lb/>ſollte man von den ſchmeckbaren Dingen einige empfin-<lb/>
den, andre aber nicht? —</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Sichtbar iſt, weſſen allein das Geſicht iſt. Sicht-<lb/>
bar iſt aber die Farbe und etwas das ſich zwar be-<lb/>ſchreiben laͤßt, aber keinen eigenen Nahmen hat. Was<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[13/0047]
Maſſen ſind etwas allen Sinneswahrnehmungen gemei-
nes, oder wenn nicht allen, doch dem Geſichte und
Gefuͤhl. Darum taͤuſchen dieſe beyden Sinne ſich zwar
hieruͤber, nicht aber uͤber das jedem eigenthuͤmliche,
z. E. das Geſicht nicht uͤber die Farbe, das Gehoͤr
nicht uͤber den Schall. Jene Phyſiologen aber werfen
das Eigenthuͤmliche mit dem Gemeinſchaftlichen zuſam-
men, wie Democritus. Vom Weißen nehmlich und
Schwarzen behauptet er, dieſes ſey rauh und jenes
glatt. Auch die Geſchmaͤcke bringt er auf Geſtalten zu-
ruͤck. Wiewohl es des Geſichtes mehr als jedes andern
Sinnes Eigenſchaft iſt, das Gemeinſame zu erkennen.
Sollte es nun mehr des Geſchmackes Sache ſeyn; ſo
muͤßte, da das kleinſte in jeglicher Art zu unterſcheiden,
dem ſchaͤrfſten Sinne angehoͤrt, der Geſchmack zumeiſt
das uͤbrige gemeinſame empfinden und uͤber die Geſtalt
der vollkommenſte Richter ſeyn. Ferner alles Empfind-
bare hat Gegenſaͤtze, z. E. in der Farbe, iſt dem
Schwarzen das Weiße, im Geſchmack, das Suͤße dem
Bittern entgegen; Geſtalt aber ſcheint kein Gegenſatz
von Geſtalt zu ſeyn. Denn welchem Eck ſteht der Zirkel
entgegen? Ferner da die Geſtalten unendlich ſind, muͤß-
ten auch die Geſchmaͤcke unendlich ſeyn: denn warum
ſollte man von den ſchmeckbaren Dingen einige empfin-
den, andre aber nicht? —
Sichtbar iſt, weſſen allein das Geſicht iſt. Sicht-
bar iſt aber die Farbe und etwas das ſich zwar be-
ſchreiben laͤßt, aber keinen eigenen Nahmen hat. Was
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/47>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.