den unhaltbaren Puncten, aber nicht kräftig genug und auf die unrechte Weise, so muß er wieder verlieren, und das Falsche erhält die Sanction des Wahren.
Schon in diesem Briefe, wie in allen Beantwor- tungen die er gegen seine ersten Gegner richtet, findet sich jene von uns in der Polemik angezeigte Behand- lungsart seines Gegenstandes, die er auf seine Schüler fortgepflanzt hat. Es ist ein fortdauerndes Setzen und Aufheben, ein unbedingtes Aussprechen und au- genblickliches Limitiren, so daß zugleich alles und nichts wahr ist.
Diese Art, welche eigentlich bloß dialectisch ist und einem Sophisten ziemte, der die Leute zum besten haben wollte, findet sich, so viel mir bekannt gewor- den, seit der scholastischen Zeit wieder zuerst bey Newton. Seine Vorgänger, von den wiederauflebenden Wissenschaften an, waren, wenn auch oft beschränkt, doch immer treulich-dogmatisch, wenn auch unzuläng- lich, doch redlich didactisch; Newtons Vortrag hin- gegen besteht aus einem ewigen Hinterstzuvörderst, aus den tollsten Transpositionen, Wiederholungen und Verschränkungen, aus dogmatisirten und didactisirten Widersprüchen, die man vergeblich zu fassen strebt, aber doch zuletzt auswendig lernt und also etwas wirk- lich zu besitzen glaubt.
Und bemerken wir nicht im Leben, in manchen andern Fällen: wenn wir ein falsches Apercü, ein ei-
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den unhaltbaren Puncten, aber nicht kraͤftig genug und auf die unrechte Weiſe, ſo muß er wieder verlieren, und das Falſche erhaͤlt die Sanction des Wahren.
Schon in dieſem Briefe, wie in allen Beantwor- tungen die er gegen ſeine erſten Gegner richtet, findet ſich jene von uns in der Polemik angezeigte Behand- lungsart ſeines Gegenſtandes, die er auf ſeine Schuͤler fortgepflanzt hat. Es iſt ein fortdauerndes Setzen und Aufheben, ein unbedingtes Ausſprechen und au- genblickliches Limitiren, ſo daß zugleich alles und nichts wahr iſt.
Dieſe Art, welche eigentlich bloß dialectiſch iſt und einem Sophiſten ziemte, der die Leute zum beſten haben wollte, findet ſich, ſo viel mir bekannt gewor- den, ſeit der ſcholaſtiſchen Zeit wieder zuerſt bey Newton. Seine Vorgaͤnger, von den wiederauflebenden Wiſſenſchaften an, waren, wenn auch oft beſchraͤnkt, doch immer treulich-dogmatiſch, wenn auch unzulaͤng- lich, doch redlich didactiſch; Newtons Vortrag hin- gegen beſteht aus einem ewigen Hinterſtzuvoͤrderſt, aus den tollſten Transpoſitionen, Wiederholungen und Verſchraͤnkungen, aus dogmatiſirten und didactiſirten Widerſpruͤchen, die man vergeblich zu faſſen ſtrebt, aber doch zuletzt auswendig lernt und alſo etwas wirk- lich zu beſitzen glaubt.
Und bemerken wir nicht im Leben, in manchen andern Faͤllen: wenn wir ein falſches Aperçuͤ, ein ei-
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den unhaltbaren Puncten, aber nicht kraͤftig genug und
auf die unrechte Weiſe, ſo muß er wieder verlieren,
und das Falſche erhaͤlt die Sanction des Wahren.
Schon in dieſem Briefe, wie in allen Beantwor-
tungen die er gegen ſeine erſten Gegner richtet, findet
ſich jene von uns in der Polemik angezeigte Behand-
lungsart ſeines Gegenſtandes, die er auf ſeine Schuͤler
fortgepflanzt hat. Es iſt ein fortdauerndes Setzen
und Aufheben, ein unbedingtes Ausſprechen und au-
genblickliches Limitiren, ſo daß zugleich alles und nichts
wahr iſt.
Dieſe Art, welche eigentlich bloß dialectiſch iſt
und einem Sophiſten ziemte, der die Leute zum beſten
haben wollte, findet ſich, ſo viel mir bekannt gewor-
den, ſeit der ſcholaſtiſchen Zeit wieder zuerſt bey
Newton. Seine Vorgaͤnger, von den wiederauflebenden
Wiſſenſchaften an, waren, wenn auch oft beſchraͤnkt,
doch immer treulich-dogmatiſch, wenn auch unzulaͤng-
lich, doch redlich didactiſch; Newtons Vortrag hin-
gegen beſteht aus einem ewigen Hinterſtzuvoͤrderſt, aus
den tollſten Transpoſitionen, Wiederholungen und
Verſchraͤnkungen, aus dogmatiſirten und didactiſirten
Widerſpruͤchen, die man vergeblich zu faſſen ſtrebt,
aber doch zuletzt auswendig lernt und alſo etwas wirk-
lich zu beſitzen glaubt.
Und bemerken wir nicht im Leben, in manchen
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/451>, abgerufen am 21.11.2024.
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