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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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nichts Unächtes aufbinden lassen, und die Vernunft
verabscheuet es.

Dieser natürliche Abscheu vor dem Unächten und
das Sonderungsvermögen sind nicht immer beysam-
men. Jener fühlt wohl, was er will, aber vermag es
nicht immer zu beweisen; dieses will eigentlich nichts,
aber das Erkannte vermag es darzuthun. Es verwirft
wohl ohne Abneigung und nimmt auf ohne Liebe. Viel-
leicht entsteht dadurch eine der Absicht gemäße Gerech-
tigkeit. Wenn beydes jedoch, Abscheu und Sonde-
rungsgabe, zusammenträfe, stünde die Critik wohl auf
der höchsten Stufe.

Die Bibel, als ein heiliges unantastbares Buch,
entfernte von sich die Critik, ja eine uncritische Be-
handlung schien ihr wohl angemessen. Den platoni-
schen und aristotelischen Schriften erging es anfäng-
lich auf ähnliche Weise. Erst später sah man sich nach
einem Prüfstein um, der nicht so leicht zu finden war.
Doch ward man zuletzt veranlaßt, den Buchstaben die-
ser Werke näher zu untersuchen; mehrere Abschriften
gaben zu Vergleichung Anlaß. Ein richtigeres Ver-
stehen führte zum bessern Uebersetzen. Dem geistreichen
Manne mußten bey dieser Gelegenheit Emendationen in
die Hand fallen und der reine Wortverstand immer be-
deutender werden.

Die Farbenlehre verdankt auch diesen Bemühun-
gen ihre neuen Anfänge, obgleich das, was auf solche

nichts Unaͤchtes aufbinden laſſen, und die Vernunft
verabſcheuet es.

Dieſer natuͤrliche Abſcheu vor dem Unaͤchten und
das Sonderungsvermoͤgen ſind nicht immer beyſam-
men. Jener fuͤhlt wohl, was er will, aber vermag es
nicht immer zu beweiſen; dieſes will eigentlich nichts,
aber das Erkannte vermag es darzuthun. Es verwirft
wohl ohne Abneigung und nimmt auf ohne Liebe. Viel-
leicht entſteht dadurch eine der Abſicht gemaͤße Gerech-
tigkeit. Wenn beydes jedoch, Abſcheu und Sonde-
rungsgabe, zuſammentraͤfe, ſtuͤnde die Critik wohl auf
der hoͤchſten Stufe.

Die Bibel, als ein heiliges unantaſtbares Buch,
entfernte von ſich die Critik, ja eine uncritiſche Be-
handlung ſchien ihr wohl angemeſſen. Den platoni-
ſchen und ariſtoteliſchen Schriften erging es anfaͤng-
lich auf aͤhnliche Weiſe. Erſt ſpaͤter ſah man ſich nach
einem Pruͤfſtein um, der nicht ſo leicht zu finden war.
Doch ward man zuletzt veranlaßt, den Buchſtaben die-
ſer Werke naͤher zu unterſuchen; mehrere Abſchriften
gaben zu Vergleichung Anlaß. Ein richtigeres Ver-
ſtehen fuͤhrte zum beſſern Ueberſetzen. Dem geiſtreichen
Manne mußten bey dieſer Gelegenheit Emendationen in
die Hand fallen und der reine Wortverſtand immer be-
deutender werden.

Die Farbenlehre verdankt auch dieſen Bemuͤhun-
gen ihre neuen Anfaͤnge, obgleich das, was auf ſolche

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[171/0205] nichts Unaͤchtes aufbinden laſſen, und die Vernunft verabſcheuet es. Dieſer natuͤrliche Abſcheu vor dem Unaͤchten und das Sonderungsvermoͤgen ſind nicht immer beyſam- men. Jener fuͤhlt wohl, was er will, aber vermag es nicht immer zu beweiſen; dieſes will eigentlich nichts, aber das Erkannte vermag es darzuthun. Es verwirft wohl ohne Abneigung und nimmt auf ohne Liebe. Viel- leicht entſteht dadurch eine der Abſicht gemaͤße Gerech- tigkeit. Wenn beydes jedoch, Abſcheu und Sonde- rungsgabe, zuſammentraͤfe, ſtuͤnde die Critik wohl auf der hoͤchſten Stufe. Die Bibel, als ein heiliges unantaſtbares Buch, entfernte von ſich die Critik, ja eine uncritiſche Be- handlung ſchien ihr wohl angemeſſen. Den platoni- ſchen und ariſtoteliſchen Schriften erging es anfaͤng- lich auf aͤhnliche Weiſe. Erſt ſpaͤter ſah man ſich nach einem Pruͤfſtein um, der nicht ſo leicht zu finden war. Doch ward man zuletzt veranlaßt, den Buchſtaben die- ſer Werke naͤher zu unterſuchen; mehrere Abſchriften gaben zu Vergleichung Anlaß. Ein richtigeres Ver- ſtehen fuͤhrte zum beſſern Ueberſetzen. Dem geiſtreichen Manne mußten bey dieſer Gelegenheit Emendationen in die Hand fallen und der reine Wortverſtand immer be- deutender werden. Die Farbenlehre verdankt auch dieſen Bemuͤhun- gen ihre neuen Anfaͤnge, obgleich das, was auf ſolche

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/205>, abgerufen am 28.03.2024.