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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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glückt es denjenigen, die sich mit den Denkmalen jener
Zeit genauer bekannt machen, noch einiges aufzufinden;
vielleicht kann in der Geschichte des Colorits und der
Färbekunst noch manches beygebracht werden. Für uns
ging die Farbenlehre mit dem Glanz der übrigen Wis-
senschaften und Künste scheidend unter, um erst später
wieder hervorzutreten. Wenn wir hier und da der
Farbe erwähnt finden, so ist es nur gelegentlich; sie
wird vorausgesetzt wie das Athemholen und Sprechen
bey der Redekunst. Niemand beschäftigt sich mit ih-
ren Elementen und Verhältnissen, bis endlich diese er-
freuliche Erscheinung, die uns in der Natur so lebhaft
umgibt, auch für das Bewußtseyn mit den übrigen
Wissenschaften aus der Ueberlieferung wieder hervor-
tritt.


Je mehrere und vorzüglichere Menschen sich mit
den köstlichen überlieferten Resten des Alterthums be-
schäftigen mochten, desto energischer zeigte sich jene
Function des Verstandes, die wir wohl die höchste
nennen dürfen, die Critik nämlich, das Absondern des
Aechten vom Unächten.

Dem Gefühl, der Einbildungskraft ist es ganz
gleichgültig, wovon sie angeregt werden, da sie beyde
ganz reine Selbstthätigkeiten sind, die sich ihre Ver-
hältnisse nach Belieben hervorbringen, nicht so dem
Verstande, der Vernunft. Beyde haben einen entschie-
denen Bezug auf die Welt; der Verstand will sich

gluͤckt es denjenigen, die ſich mit den Denkmalen jener
Zeit genauer bekannt machen, noch einiges aufzufinden;
vielleicht kann in der Geſchichte des Colorits und der
Faͤrbekunſt noch manches beygebracht werden. Fuͤr uns
ging die Farbenlehre mit dem Glanz der uͤbrigen Wiſ-
ſenſchaften und Kuͤnſte ſcheidend unter, um erſt ſpaͤter
wieder hervorzutreten. Wenn wir hier und da der
Farbe erwaͤhnt finden, ſo iſt es nur gelegentlich; ſie
wird vorausgeſetzt wie das Athemholen und Sprechen
bey der Redekunſt. Niemand beſchaͤftigt ſich mit ih-
ren Elementen und Verhaͤltniſſen, bis endlich dieſe er-
freuliche Erſcheinung, die uns in der Natur ſo lebhaft
umgibt, auch fuͤr das Bewußtſeyn mit den uͤbrigen
Wiſſenſchaften aus der Ueberlieferung wieder hervor-
tritt.


Je mehrere und vorzuͤglichere Menſchen ſich mit
den koͤſtlichen uͤberlieferten Reſten des Alterthums be-
ſchaͤftigen mochten, deſto energiſcher zeigte ſich jene
Function des Verſtandes, die wir wohl die hoͤchſte
nennen duͤrfen, die Critik naͤmlich, das Abſondern des
Aechten vom Unaͤchten.

Dem Gefuͤhl, der Einbildungskraft iſt es ganz
gleichguͤltig, wovon ſie angeregt werden, da ſie beyde
ganz reine Selbſtthaͤtigkeiten ſind, die ſich ihre Ver-
haͤltniſſe nach Belieben hervorbringen, nicht ſo dem
Verſtande, der Vernunft. Beyde haben einen entſchie-
denen Bezug auf die Welt; der Verſtand will ſich

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[170/0204] gluͤckt es denjenigen, die ſich mit den Denkmalen jener Zeit genauer bekannt machen, noch einiges aufzufinden; vielleicht kann in der Geſchichte des Colorits und der Faͤrbekunſt noch manches beygebracht werden. Fuͤr uns ging die Farbenlehre mit dem Glanz der uͤbrigen Wiſ- ſenſchaften und Kuͤnſte ſcheidend unter, um erſt ſpaͤter wieder hervorzutreten. Wenn wir hier und da der Farbe erwaͤhnt finden, ſo iſt es nur gelegentlich; ſie wird vorausgeſetzt wie das Athemholen und Sprechen bey der Redekunſt. Niemand beſchaͤftigt ſich mit ih- ren Elementen und Verhaͤltniſſen, bis endlich dieſe er- freuliche Erſcheinung, die uns in der Natur ſo lebhaft umgibt, auch fuͤr das Bewußtſeyn mit den uͤbrigen Wiſſenſchaften aus der Ueberlieferung wieder hervor- tritt. Je mehrere und vorzuͤglichere Menſchen ſich mit den koͤſtlichen uͤberlieferten Reſten des Alterthums be- ſchaͤftigen mochten, deſto energiſcher zeigte ſich jene Function des Verſtandes, die wir wohl die hoͤchſte nennen duͤrfen, die Critik naͤmlich, das Abſondern des Aechten vom Unaͤchten. Dem Gefuͤhl, der Einbildungskraft iſt es ganz gleichguͤltig, wovon ſie angeregt werden, da ſie beyde ganz reine Selbſtthaͤtigkeiten ſind, die ſich ihre Ver- haͤltniſſe nach Belieben hervorbringen, nicht ſo dem Verſtande, der Vernunft. Beyde haben einen entſchie- denen Bezug auf die Welt; der Verſtand will ſich

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/204>, abgerufen am 28.03.2024.