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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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die Wirkungen, die Ursachen, selbst die nächsten, sind
ihm unbekannt; nur sehr wenige, tiefer dringende, er-
fahrene, aufmerkende werden allenfalls gewahr, woher
die Wirkung entspringe.

Man hat oft gesagt und mit Recht, der Unglaube
sey ein umgekehrter Aberglaube, und an dem letzten
möchte gerade unsere Zeit vorzüglich leiden. Eine edle
That wird dem Eigennutz, eine heroische Handlung der
Eitelkeit, das unläugbare poetische Product einem fie-
berhaften Zustande zugeschrieben; ja was noch wun-
derlicher ist, das allervorzüglichste was hervortritt, das
allermerkwürdigste was begegnet, wird so lange als nur
möglich ist, verneint.

Dieser Wahnsinn unserer Zeit ist auf alle Fälle
schlimmer, als wenn man das Außerordentliche, weil
es nun einmal geschah, gezwungen zugab und es dem
Teufel zuschrieb. Der Aberglaube ist ein Erbtheil ener-
gischer, großthätiger, fortschreitender Naturen; der Un-
glaube das Eigenthum schwacher, kleingesinnter, zu-
rückschreitender, auf sich selbst beschränkter Menschen.
Jene lieben das Erstaunen, weil das Gefühl des Erha-
benen dadurch in ihnen erregt wird, dessen ihre Seele
fähig ist, und da dieß nicht ohne eine gewisse Apprehen-
sion geschieht, so spiegelt sich ihnen dabey leicht ein bö-
ses Princip vor. Eine ohnmächtige Generation aber
wird durchs Erhabene zerstört, und da man Niemanden
zumuthen kann, sich willig zerstören zu lassen; so haben
sie völlig das Recht, das Große und Uebergroße, wenn

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die Wirkungen, die Urſachen, ſelbſt die naͤchſten, ſind
ihm unbekannt; nur ſehr wenige, tiefer dringende, er-
fahrene, aufmerkende werden allenfalls gewahr, woher
die Wirkung entſpringe.

Man hat oft geſagt und mit Recht, der Unglaube
ſey ein umgekehrter Aberglaube, und an dem letzten
moͤchte gerade unſere Zeit vorzuͤglich leiden. Eine edle
That wird dem Eigennutz, eine heroiſche Handlung der
Eitelkeit, das unlaͤugbare poetiſche Product einem fie-
berhaften Zuſtande zugeſchrieben; ja was noch wun-
derlicher iſt, das allervorzuͤglichſte was hervortritt, das
allermerkwuͤrdigſte was begegnet, wird ſo lange als nur
moͤglich iſt, verneint.

Dieſer Wahnſinn unſerer Zeit iſt auf alle Faͤlle
ſchlimmer, als wenn man das Außerordentliche, weil
es nun einmal geſchah, gezwungen zugab und es dem
Teufel zuſchrieb. Der Aberglaube iſt ein Erbtheil ener-
giſcher, großthaͤtiger, fortſchreitender Naturen; der Un-
glaube das Eigenthum ſchwacher, kleingeſinnter, zu-
ruͤckſchreitender, auf ſich ſelbſt beſchraͤnkter Menſchen.
Jene lieben das Erſtaunen, weil das Gefuͤhl des Erha-
benen dadurch in ihnen erregt wird, deſſen ihre Seele
faͤhig iſt, und da dieß nicht ohne eine gewiſſe Apprehen-
ſion geſchieht, ſo ſpiegelt ſich ihnen dabey leicht ein boͤ-
ſes Princip vor. Eine ohnmaͤchtige Generation aber
wird durchs Erhabene zerſtoͤrt, und da man Niemanden
zumuthen kann, ſich willig zerſtoͤren zu laſſen; ſo haben
ſie voͤllig das Recht, das Große und Uebergroße, wenn

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[163/0197] die Wirkungen, die Urſachen, ſelbſt die naͤchſten, ſind ihm unbekannt; nur ſehr wenige, tiefer dringende, er- fahrene, aufmerkende werden allenfalls gewahr, woher die Wirkung entſpringe. Man hat oft geſagt und mit Recht, der Unglaube ſey ein umgekehrter Aberglaube, und an dem letzten moͤchte gerade unſere Zeit vorzuͤglich leiden. Eine edle That wird dem Eigennutz, eine heroiſche Handlung der Eitelkeit, das unlaͤugbare poetiſche Product einem fie- berhaften Zuſtande zugeſchrieben; ja was noch wun- derlicher iſt, das allervorzuͤglichſte was hervortritt, das allermerkwuͤrdigſte was begegnet, wird ſo lange als nur moͤglich iſt, verneint. Dieſer Wahnſinn unſerer Zeit iſt auf alle Faͤlle ſchlimmer, als wenn man das Außerordentliche, weil es nun einmal geſchah, gezwungen zugab und es dem Teufel zuſchrieb. Der Aberglaube iſt ein Erbtheil ener- giſcher, großthaͤtiger, fortſchreitender Naturen; der Un- glaube das Eigenthum ſchwacher, kleingeſinnter, zu- ruͤckſchreitender, auf ſich ſelbſt beſchraͤnkter Menſchen. Jene lieben das Erſtaunen, weil das Gefuͤhl des Erha- benen dadurch in ihnen erregt wird, deſſen ihre Seele faͤhig iſt, und da dieß nicht ohne eine gewiſſe Apprehen- ſion geſchieht, ſo ſpiegelt ſich ihnen dabey leicht ein boͤ- ſes Princip vor. Eine ohnmaͤchtige Generation aber wird durchs Erhabene zerſtoͤrt, und da man Niemanden zumuthen kann, ſich willig zerſtoͤren zu laſſen; ſo haben ſie voͤllig das Recht, das Große und Uebergroße, wenn 11 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/197>, abgerufen am 25.04.2024.